Aurie und die Selbst-Liebe
Aurie war dankbar über das, was Noah ihr über die Freude beigebracht hatte. Sie fühlte sich so viel freier und konnte das Leben wieder mehr genießen. Abends war ihr Herz voller Dankbarkeit über das, was der Tag ihr gebracht hatte. Sie freute sich, dass sie das abends mit ihrer Großmutter teilen konnte, wenn diese sie ins Bett brachte. Aurie war zufrieden.
Gedankenverloren saß sie unter ihrem Apfelbaum und dachte nach. Einerseits war sie zufrieden mit ihrem Leben und konnte sich über das freuen, was ihr der Tag schenkte. Sie war voll Staunen und Freude über das Vogelgezwitscher, betrachtete die Sonne, die nach einem Gewitter durch die Wolken brach, war kurz wütend auf sich selbst, weil ihr der Kuchen heruntergefallen war, geigte Paul ihre Meinung, wenn er sich danebenbenahm. Innerlich war sie getragen und neugierig auf das, was kam.
Andererseits war Aurie nachdenklich, gerade in den letzten Tagen. Im Kunstunterricht hatte ihr Bild nicht genügt, weil es nicht so aussah, wie das der meisten anderen. Das machte sie traurig, denn ihr hatte es sehr gut gefallen, bis es in der Gruppe besprochen wurde. Sie konnte es immer noch nicht verstehen. Sie war nicht Van Gogh. Sie wollte auch nicht so malen wie er.
Im Sportunterricht war es gerade schwierig für sie. Sie übten Radschlagen und das wollte Aurie einfach nicht gelingen. Für die anderen Mädchen schien das das Leichteste auf der Welt zu sein und sie kicherten, wenn Aurie unbeholfen durch die Gegend purzelte. Sport machte ihr gerade wirklich keinen Spaß. Und in Mathe stresste es sie gerade sehr. Sie mussten am Anfang der Stunde immer Kopfrechnen und wer das Ergebnis wusste, durfte sich wieder hinsetzen. Sie konnte rechnen, aber nicht so schnell und nicht gut unter Druck. Wenn sie als eine der letzten noch stand und die Blicke der anderen auf sich spürte, war das für sie kaum zu ertragen.
Sie seufzte. Es fiel ihr auch schwer es auszuhalten, die Ablehnung der anderen zu spüren bekam, wenn sie anderer Meinung war oder sich für jemand Schwächeren in der Klasse einsetzte. In der Schule hatte sie heute zu einem Thema ihre Meinung nicht gesagt, weil sie die Ablehnung nicht wieder spüren wollte. Allerdings ging es ihr damit, dass sie nichts gesagt hatte, auch nicht gut. Es fühlte sich falsch an. Sie fühlte sich, als wäre ihr Raum kleiner geworden. Das machte sie traurig.
„Warum gibst Du dem Außen so viel Gewicht?“ hörte sie Noahs Stimme und als sie aufblickte stand er strahlend vor ihr.
Aurie lächelte glücklich und sah ihn einfach nur an. Es tat gut, ihn zu sehen und zu spüren! Das gab ihr Kraft. Sie schwieg, denn ihr fiel keine Antwort auf Noahs Frage ein.
Er sah sie liebevoll an und wiederholte seine Frage: „Warum gibst Du dem Außen so viel Gewicht?“
Nach einer Weile murmelte Aurie: „Ich glaube, ich will einfach dazu gehören. Ich hasse dieses Gefühl der Ablehnung. Das tut mir innerlich weh!“
„Das kann ich verstehen, Aurie.“ sagte Noah sanft und sie hatte das Gefühl, als würde er ihr über den Kopf streicheln. Sie blickte ihn an.
„Warum ist das so, Noah? Warum können die anderen mich nicht akzeptieren, wie ich bin?“
„Akzeptierst Du denn, dass Du so bist, wie Du bist?“ gab Noah die Frage liebevoll zurück.
Aurie schwieg. Sie musste ihm Recht geben. Sie hatte begonnen, sich zu wünschen sportlicher zu sein, schneller rechnen zu können oder weniger zu fühlen, was die anderen denken. Sie glaubte, dann wäre es einfacher für sie.
„Jeder kommt mit unterschiedlichen Gaben auf die Welt, Aurie. Jeder hat eine andere Vision und Aufgabe hier auf der Erde. Allein deshalb ist es gar nicht möglich, dass alle gleich sind.“ Noah blickte sie gütig an. „Jeder muss auch unterschiedliche Fähigkeiten trainieren und lernen, um seine Vision zu verwirklichen. Stell Dir vor, es würde nur noch Dachdecker oder Ärzte geben und niemanden mehr, der Dir morgens mit großer Freude ein Croissant verkauft.“ Er zwinkerte ihr zu.
Aurie seufzte. „Und trotzdem tut es weh, wenn ich ihre Ablehnung spüre.“
„Die Menschen haben die innere Einheit, die Verbindung zur Liebe verloren, Aurie. Ihre Ablehnung hat weniger mit Dir zu tun, sondern mehr mit dem Gefühl dieses Verlustes. Sie erinnern sich tief in sich an dieses Gefühl, mit allem in Liebe verbunden zu sein. Die Sehnsucht nach dieser Verbindung ist weiter da. Daher versuchen sie im Außen alles anzugleichen, um die Einheit scheinbar wieder herzustellen. Solange aber die innere Einheit und Verbindung mit der Liebe nicht besteht, bleibt das Gefühl der Trennung. Die vermeintliche Gleichheit im Außen ist nicht von Dauer. Es ist gar nicht möglich, sie herzustellen. Und trotzdem versuchen es die Menschen immer wieder.“ erklärte Noah weiter. „Bei dem Versuch, sich allem anzugleichen, geht aber Dein eigenes inneres Strahlen und Deine Stärke verloren, Aurie. Du kannst nicht etwas ignorieren, was Dich ausmacht. Das wäre, wie wenn Du versuchst zu ignorieren, dass Du Beine hast. Und ich habe Dir schon erzählt, was die Kraft Deiner Gedanken bewirken kann. Es wird Dich krank machen.“
Aurie verstand, was Noah ihr erklärte. Sie war zwar nicht krank geworden in den letzten Tagen, aber ihre Stimmung war deutlich gedrückt gewesen und sie fühlte ständig eine Schwere in ihrem Herzen.
„Genau, Aurie. Und damit entziehst Du Deinem Körper Energie und Kraft.“
„Der Unterschied zwischen äußerer Gleichheit und innerer Verbundenheit ist ganz einfach. Bei äußerer Gleichheit geht es den Menschen darum, alles gleich zu machen, gleich auszusehen und eine Norm zu entwickeln. Dies schafft kurzfristig ein Gefühl der Einheit und Sicherheit. Allerdings schließt sie jeden Unterschied aus, da dieser das Gefühl der Trennung verstärkt. Und das halten die Menschen nicht aus.
Sind die Menschen sich ihrer inneren Einheit bewusst und in sich mit der tiefen Liebe und ihrer Kraft verbunden, kann jeder mit seinen Gaben und seiner Meinung sein, solange es dem Wohle aller dient. Dann ist es möglich, bei sich zu bleiben und den anderen einfach in seinem Sein wahrzunehmen.“ sagte Noah.
„Aber das kann ich doch den anderen nicht erklären!“ sagte Aurie. „Dann denken sie wirklich, ich bin verrückt.“
„Alleine, dass Dir bewusst ist, warum das so ist, wird es Dir leichter machen, es auszuhalten.“ sagte Noah. „Denn jetzt weißt Du, dass es nichts mit Dir zu tun hat. Dein Verständnis und Bewusstsein für den Verlust der anderen durch die innere Getrenntheit ermöglicht es Dir, ihnen anders zu begegnen. Das ist eine Hilfe für sie.“ Noah zwinkerte. „Du kannst Dir das vorstellen wie mit einem Echo. Wenn Du etwas anderes rufst, schallt etwas anderes zu Dir zurück. Wenn Du ihnen also anders begegnest, wird es in ihnen eine andere Reaktion hervorrufen. Sie haben dadurch die Chance, eine neue Erfahrung zu machen.
Übrigens ist die Licht-Ei-Übung, die ich Dir beigebracht habe, eine wunderbare Hilfe, wenn Du die Ablehnung der anderen spürst, um Dein Energiefeld zu halten und Dich davon weniger beeinflussen zu lassen.“
„Danke, dass Du mir das nochmal in Erinnerung rufst.“ sagte Aurie. „Ich habe tatsächlich in den letzten Tagen nicht daran gedacht, die Übung in diesen Momenten zu machen.“
„Es ist wichtig, Aurie, dass Dir Deine Gaben und Stärken mehr bewusstwerden und Dir klar wird, was sie für Dich und andere bedeuten.“ forderte Noah sie auf. „Dann ist es für Dich leichter, in dem Feld der Trennung, das die Menschen schaffen, zu bestehen.“
Aurie blickte Noah an. „Und wie soll ich das machen? In solchen Momenten bin ich einfach nur traurig, weil ich nicht das kann oder bin, was andere von mir erwarten.“
„Ganz genau deshalb, Aurie, ist es wichtig, dass Du Dir Deiner Stärken und deren Bedeutung für Dich und andere bewusst bist. Dann haben die Erwartungen der anderen an Dich, wie Du sein sollst, weniger Macht. Dein eigenes inneres Strahlen ist dann stärker und kann dadurch nicht mehr kleiner werden. Das ist wichtig, wenn Du Deine Vision hier auf die Erde bringen willst.“
Aurie seufzte. Wieder etwas, das sie lernen durfte.
„Nimm Dir ein Blatt Papier, Aurie, und schreibe alle Deine Gaben, Fähigkeiten und Stärken auf, die Dir einfallen. Schreibe alles auf, was Du und andere an Dir schätzen. Und dann frag Deine Großmutter, Deine Eltern, Deine Freunde und andere Menschen, die Dir wichtig sind. Bitte sie aufzuschreiben, was Deine Stärken, Gaben und Fähigkeiten sind, was sie an Dir schätzen und wofür sie Dir dankbar sind. Schreibe all das mit auf Deine Liste.
Und dann nimm die Liste immer wieder zur Hand und lies sie Dir durch. Spüre dabei in Deinen Körper hinein: was kannst Du selbst davon schon in Dir sehen und wofür kannst Du Dich selbst wertschätzen? Bei welchen Punkten merkst Du in Dir noch einen Unglauben oder zweifelst daran, ob es so ist? Sei Dir bewusst, wenn die anderen es in Dir sehen können, ist es ein Teil von Dir. Es ist wichtig, dass Du auch selbst lernst, ihn zu sehen und Dich dafür wertzuschätzen. Beobachte Dich im Alltag und suche aktiv nach Momenten, in denen Du diese Fähigkeiten wahrnehmen kannst, an denen Du noch zweifelst.“ Noah blickte Aurie an und schwieg.
Aurie dachte über das nach, was Noah ihr gesagt hatte. Das würde Arbeit werden, aber sie hatte Lust, diese Liste zu schreiben und zu sehen, was dabei herauskommt. Sie lächelte Noah an.
„Ja, das ist Arbeit, Aurie.“ Noah grinste zurück. „Aber sie ist notwendig, damit Du, solange die Menschen noch in der Trennung leben, Dein Bewusstsein für Deine Stärken und für das, was Du in die Welt bringst, nicht verlierst. Erinnere Dich daran: Nur dann ist es möglich, Deine Vision auf die Erde zu bringen und sie zu leben.“
Das leuchtete Aurie ein. Sie war dankbar, dass Noah ihr wieder eine Möglichkeit gezeigt hatte, wie sie sich von den Energien und Erwartungen anderer weniger beeinflussen lassen konnte.
„Noch eine letzte Sache, Aurie. Wenn Du morgens aufstehst, dann frage Dich: „Wer will ich heute sein? Wie kann ich zu einer besseren Version meiner selbst werden und mich weiterentwickeln? Wie kann ich zum Wohle aller beitragen?“ Das hilft Dir, Dich jeden Tag aufs Neue auf Deine Stärken und Fähigkeiten zu fokussieren und sie bewusst in Deinem Tag zu nutzen. Das wird Dich stärken und Dir helfen, sie zu festigen. Und gleichzeitig wird es einen Unterschied für die Welt machen.“ Noah zwinkerte ihr zu. „Jetzt hast Du was zu tun.“ sagte er. „Ich werde Dir noch mehr über die Selbst-Liebe beibringen, aber für heute ist das genug.“ Noah erhob sich und tat so, als würde er sein Gewand ausklopfen. Aurie musste lachen.
Sie stand ebenfalls auf, denn sie wollte gleich mit ihrer Liste beginnen. „Danke, Noah!“ rief sie und rannte ins Haus, noch ehe Noah verschwunden war. Sie blickte vom Haus nochmal zu ihm zurück. Er stand immer noch beim Apfelbaum und winkte ihr zu. Im nächsten Moment war er verschwunden. Aurie ging hinein und setzte sich an ihren Schreibtisch. Sie nahm Stift und Papier und begann mit der Liste ihrer Gaben, Fähigkeiten und Stärken.
© Sara Hiebl