Aurie und die Selbst-Liebe 2

 

Aurie saß unter ihrem Apfelbaum und hielt eine lange Liste mit ihren Gaben, Stärken und Fähigkeiten in der Hand. Sie hatte geschrieben, bis ihr nichts mehr eingefallen war. Dann hatte sie ihre Großmutter, ihre Eltern, ihre Lehrerin, ihre besten Freunde, einen Onkel und ihre ehemalige Erzieherin gefragt, ob sie ihr aufschreiben würden, was ihre Stärken, Gaben und Fähigkeiten sind. Was sie an ihr schätzen und wofür sie ihr dankbar sind. Sie war tief berührt gewesen über das Feedback, dass sie zurückbekommen hatte. Das hatte sie nicht erwartet! Sie hatte die Liste immer und immer wieder durchgelesen. Bei Vielem hatte sie sich sehr gefreut. Dinge, die ihr an ihr selbst wichtig und wertvoll waren, wie zum Beispiel ihre Freundlichkeit, konnten auch die anderen sehen. Manches hatte sie jedoch erstaunt, weil sie noch nie darüber nachgedacht hatte, dass es für jemand anderen wertvoll sein könnte. Oder, weil es für sie einfach selbstverständlich war, wie ihre Hilfsbereitschaft.

 

Über ein paar Punkte auf der Liste war sie jedoch sehr nachdenklich geworden. Das waren die Dinge, die sie nicht in sich selbst sehen konnte. Und Dinge, die ihr so groß erschienen, dass sie nicht glauben konnte, dass das eine ihrer Stärken sein sollte! Ihre Großmutter hatte zum Beispiel aufgeschrieben, dass Auries Liebe so stark sei, dass sie Menschen heilen könne. Das hielt sie doch für arg wagemutig, ihr das zuzutrauen! Gedankenverloren blickte sie vor sich hin.

 

„Deine Großmutter hat Recht.“ hörte sie Noah sagen.

Aurie blickte auf und vor ihr saß Noah im Gras, der sie gutmütig anlächelte.

„Womit?“ fragte Aurie. Sie blickte in sein Strahlen und merkte, wie sich tiefer Frieden in ihr ausbreitete.

„Dass Deine Liebe so stark ist, dass sie Menschen heilen kann.“ antwortete Noah.

Aurie schüttelte den Kopf. „Das glaube ich nicht. Ich bin doch nur ein kleines Mädchen. Wie soll denn meine Liebe so etwas Großes bewirken können?“ sagte sie abwehrend.

„Glaubst Du denn, dass Deine Großmutter lügt?“ fragte sie Noah.

„Nein.“ erwiderte Aurie und wurde nachdenklich.

„Warum denkst Du wohl, wird sie das geschrieben haben?“ fragte Noah.

Aurie zuckte mit den Schultern.

„Erinnerst Du Dich daran, als Du bemerkt hast, dass der Schatten in Deiner Großmutter etwas kleiner geworden ist, nachdem Du immer wieder Schattenarbeit gemacht hast?“

Aurie nickte.

„Für Deine Großmutter ist die Liebe, die sie in Dir spürt, heilend. Du bist tief mit der Liebe verbunden. Und diese Verbundenheit, die Du ausstrahlst, erinnert andere an ihr eigenes Strahlen. Es stärkt ihre Sehnsucht im Herzen. Deine Liebe stößt die Liebe in den Herzen anderer an. Wenn sie beginnen, sich wieder für die Liebe zu öffnen, geschieht Heilung. Somit ist Deine Liebe so stark, dass sie anderen Menschen hilft, zu heilen.“ Noah grinste sie an.

„Aber das bin doch nicht ich!“ sagte Aurie. „Ich heile doch niemanden. Ich lasse nur die Liebe, die allen zur Verfügung steht, durch mich fließen. Ich gebe sie weiter. Ich möchte, dass jedem Lebewesen geholfen wird.“

„Also bist Du nicht die Liebe und der Wunsch, anderen zu helfen, kommt nicht aus Deinem Herzen?“ hinterfragte Noah ironisch.

„Äh. Doch. Ich bin schon Liebe, das ist doch meine Natur. Das habe ich von Dir wieder gelernt. Und der Wunsch in meinem Herzen, anderen zu helfen, ist so stark, dass ich gar nicht anders kann.“ Aurie war verwirrt. Sie merkte, dass sie doch diese Liebe war, die anderen weiterhalf. Aber irgendwie war sie damit überfordert, dass sie so etwas Großes bewirken konnte.

 

„Aurie, sei Dir bewusst, dass das ein uraltes Muster der Menschheit ist, dass Dich innerlich blockiert: Menschen machen sich kleiner, als sie tatsächlich sind. Das ist Teil ihrer Geschichte und der gegenseitigen Unterdrückung, der sich die Menschen immer wieder aussetzen. Sie haben erfahren, dass es gefährlich sein kann, wenn sie sich in ihrer ganzen Größe und Kraft zeigen. Sie haben gelernt, ihre Schöpferkraft zurückzuhalten. Die Kraft der Macht hat einen negativen, zerstörerischen Charakter gewonnen. In Wirklichkeit ist diese Macht jedoch eine liebende, kreative, freudvolle Kraft.

Die Menschen haben Teile ihres tiefsten Seins abgespalten und die Verbindung zu dieser Kraft verloren. Es ist, als hätten sie keine Beine mehr und keiner von ihnen kann noch richtig laufen.“ Noah schüttelte darüber den Kopf.

Aurie musste schmunzeln.

„Diese Erfahrung hat dazu geführt, dass die Menschen diese abgespaltenen Teile nicht mehr als etwas empfinden was zu ihnen gehört. Dadurch, dass sie im Außen keine Wertschätzung für diese wertvolle Kraft mehr erfahren haben und sie mehr noch, unterdrückt und verleugnet wurde, hat sie sich wie zu einer verkümmerten Pflanze entwickelt, der die Liebe entzogen wurde.

 

Die Menschen wissen nicht mehr, wie sie diese Kraft nutzen können. Und kommen sie doch mit ihr in Berührung, dann empfinden sie sie als störend, ungewohnt und oft erschreckend, da sie damit überfordert sind. Verständlich, da sie meist niemanden kennen, der diese Kraft aktiv und schöpferisch nutzt und an dem sie sich als Vorbild orientieren können.“ erklärte ihr Noah weiter.

Aurie hörte gespannt zu. Sie hatte ja auch niemanden als Vorbild gehabt, der so tief mit der Liebe verbunden war, und sich oft sehr verloren gefühlt, bis sie Noah getroffen hatte.

 

„Damit Deine Gaben, Talente und Fähigkeiten in Dir wachsen und sich in ihrer ganzen Kraft entfalten können, musst Du lernen, sie wieder zu lieben und voll und ganz anzunehmen, Aurie.“ Noah sah Aurie gutmütig an. „Nur dann kannst Du das alte Muster der Menschheit durchbrechen und in Deine tatsächliche Größe hineinwachsen. Nur dann kannst Du lernen, Deine Fähigkeiten auch wirklich zu nutzen und Deine Vision auf die Erde bringen. Sei Dir bewusst, Aurie: alles, was Du an Fähigkeiten und Talenten besitzt, alles, was Dich ausmacht, ist so gewollt und erfüllt seinen Sinn. Wenn Du Dir selbst nicht mit Wertschätzung und voller Annahme begegnest, missachtest Du das Geschenk der Schöpfung.“

 

Aurie schwieg. Sie musste erstmal über das nachdenken, was ihr Noah gerade alles gesagt hatte.

 

Sie selbst verhinderte also offensichtlich, dass sie ihre Vision auf die Erde bringen konnte, weil sie sich nicht mit all ihren Fähigkeiten und Talenten annehmen konnte.

„Aber alle kritisieren sich doch immer wieder. Ich kenne keinen, der so wirklich mit sich zufrieden ist. Jeder hat etwas an sich auszusetzen.“ überlegte Aurie.

„Ja, ihr habt alle das gleiche Problem.“ grinste Noah sie an.

 

„Es ist ein Unterschied, Aurie, ob Du über Dich selbst nachdenkst, und etwas verändern möchtest, um zu einem besseren Menschen zu werden, der zum Wohle aller handelt. Wenn Du aber etwas ablehnst, dass Dich grundlegend ausmacht, das zu Dir gehört, dann sabotierst Du Dich selbst. Du entziehst Dir Energie. Du machst Dich selbst auf Dauer krank. Es gibt Studien mit Pflanzen: Die Pflanzen, denen nur hässliche und negative Wörter gesagt werden, gehen ein. Die Pflanzen, die liebevolle, wohlwollende Worte hören, blühen auf. Genauso ist es mit Dir selbst.“[1] Noah blickte Aurie liebevoll an.

Jetzt verstand Aurie, was Noah ihr erklären wollte.

„Noah, wie kann ich denn lernen, mich wieder voll und ganz selbst zu lieben und alle meine Anteile, meine Fähigkeiten und das, was mich ausmacht, zu lieben?“ fragte Aurie.

Noah grinste sie an: „Ich zeige Dir eine Übung, Aurie. Starte mit dieser Übung jeden Morgen, entweder direkt nach dem Aufstehen oder, nachdem Du Dich fertig gemacht hast. Mach diese Übung für mindestens einen Monat, damit sich die Erfahrung ganz tief in Deinen Zellen verankern kann. Du brauchst dafür einen Spiegel, in dem Du Dein Gesicht gut sehen kannst. Lauf schnell ins Haus und hole Dir einen.“ wies Noah sie an.

 

Aurie rannte ins Haus, um den Handspiegel ihrer Großmutter aus dem Bad zu holen. Ihre Großmutter schaute verwundert, als sie Aurie mit dem Spiegel an sich vorbeilaufen sah. Aber Aurie hatte keine Zeit, es ihr zu erklären. Sie wollte unbedingt wissen, wie die neue Übung ging. Als sie zurück am Apfelbaum war, saß Noah noch immer dort und wartete auf sie. Aurie ließ sich wieder ins Gras plumpsen und blickte Noah gespannt an.

 

„Setz oder stell Dich für drei Minuten vor den Spiegel, Aurie. Blicke Dir tief in das rechte Auge. Nimm einfach nur Deinen Blick wahr. Wenn er abschweift, lenke ihn zurück. Wenn Gedanken auftauchen, lenke ihn zurück. Nimm ganz bewusst diesen tiefen Blick wahr. Atme und nimm Deinen Blick wahr." wies Noah sie weiter an.

Aurie blickte sich tief ins rechte Auge. Sie sah sich einfach nur an und versuchte, sich wahrzunehmen. Nicht ihre Nase, nicht ihre Stirn, einfach nur die Tiefe ihres Auges. Je länger sie sich ins Auge blickte, desto mehr konnte sie spüren, wie sich eine vollkommene Ruhe in ihr ausdehnte. Sie atmete tief. Und plötzlich bemerkte sie eine liebevolle Güte, mit der sie sich selbst betrachtete. So, wie wenn ihre Großmutter sie abends voller Liebe anblickte. Sie versank ganz im Anblick ihres Auges und war voller liebevoller Dankbarkeit. Wow! Das hatte sie nicht erwartet.

 

Nach einer Weile konnte sie ihren Blick lösen und sah Noah strahlend und still an.

Noah grinste sie an. „Wenn Du diese Übung machst, passiert genau das, Aurie. Du lernst, Dich selbst mit liebevollen Augen zu betrachten und gibst Dir die Liebe zurück, die Du Dir bislang vorenthalten hast. Und in dieser Liebe ist alles enthalten. Alles, was Dich ausmacht, all Deine Fähigkeiten, Talente und Stärken. Aber auch die Schwächen, die Du hast, Fehler, die Dir passiert sind – alles ist darin angenommen. Eine Mutter liebt ihr Kind allumfassend. Wenn Du Dich mit diesem liebenden Blick betrachtest, dann ist alles eingeschlossen: Du liebst Dich ganz.“ Noah sah Aurie gutmütig an und machte eine kleine Pause, bevor er weitersprach.

„Mit dieser Übung liebst Du Dich aktiv selbst in den Tag hinein.[2] Die Liebe zu Dir selbst und damit auch die Verbindung mit der göttlichen Liebe, die alles umfasst, ist der größte Schutz, den Du aufbauen kannst. Es ist sehr wichtig, Dich ganz tief zu verbinden, bevor Du in Deinen Tag nach außen startest. Dies ist keine egoistische Liebe, sondern eine Liebe, die keinen Unterschied macht und alles miteinschließt.“ Noah schwieg.

Aurie fühlte sich so ruhig, wie schon lange nicht mehr. Eine tiefe Freude und Leichtigkeit durchströmte sie. Sie lehnte an ihrem Apfelbaum und blickte Noah still an.

 

Noah lächelte zufrieden. Nach einer Weile erhob er sich und tat wieder so, als würde er sein Gewand ausklopfen, was Aurie zum Lachen brachte.

„Denk jeden Morgen daran, Deine Übung zu machen, Aurie.“ sagte er zum Abschied. Im nächsten Moment war er verschwunden.

Aurie hob den Spiegel ihrer Großmutter auf und tanzte zum Haus zurück.


[1] Jung, Jihye, Seon-Kyu Kim, Joo Y. Kim, Mi-Jeong Jeong and Choong-Min Ryu. “Beyond Chemical Triggers: Evidence for Sound-Evoked Physiological Reactions in Plants.” Frontiers in Plant Science 9, no. 25 (2018): doi: 10.3389/fpls.2018.00025

[2] Young, Th. (2024). Livecall „The Power of Love“, Jahresbegleitung, 18.08.24.



© Sara Hiebl

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