Aurie und die innere Stärke
Aurie hatte jeden Morgen die Übung vor dem Spiegel gemacht und sich selbst ins rechte Auge geblickt. Anfangs war es ihr schwergefallen, ihren Blick einfach auf sich selbst zu richten und nicht abzuschweifen. Sie merkte aber, wie neugierig sie auf sich selbst wurde. Und mit jedem Mal breitete sich eine immer tiefere Ruhe in ihr aus. Diese Ruhe schaffte in ihr eine große Erleichterung. Sie konnte tief durchatmen. Stück für Stück merkte sie, wie sie sich selbst liebevoller begegnete, sanfter mit sich war, wenn ihr etwas nicht gelang, liebevoller mit sich selbst sprach und besser beachtete, was ihr guttat und was sie brauchte, um sich wohlzufühlen. Das gab ihr viel mehr Kraft für ihren Tag. Sie merkte, dass sie dadurch auch geduldiger mit anderen wurde und noch besser spüren konnte, wo und wie sie hilfreich für andere sein konnte. Sie war achtsamer mit sich und der Welt geworden.
Was Aurie besonders freute: Ihrer Großmutter war aufgefallen, dass Aurie täglich nach dem Aufstehen vor dem Spiegel stand und sich anblickte. Als diese sie eines morgens lächelnd fragte, was sie da immer mache, hatte Aurie ihre Hand genommen und sie eingeladen, die Übung mit ihr zu machen. Aurie lächelte glücklich bei dem Gedanken daran. Ihre Großmutter hatte sie danach lange umarmt und ihr ein „Danke“ ins Ohr geflüstert. Aurie konnte jetzt ihre Großmutter immer mal wieder vor dem Spiegel stehen sehen. Sie lächelte wieder mehr.
Zufrieden lehnte Aurie an ihrem Apfelbaum und betrachtete einen Schmetterling in der Morgensonne. Sie strich gedankenverloren ihr Sommerkleid glatt und freute sich an dessen Farbe, die in der Sonne leuchtete. Sie dachte über die letzten Wochen nach und bemerkte in sich einen großen Unterschied: sie fühlte sich ein Stück gewachsen. Ihr fiel auf, dass es ihr nicht mehr so wichtig war, Anerkennung von anderen zu bekommen. Vorher hatte sie immer das Gefühl gehabt, von Leuten gesehen werden zu müssen. Jetzt fiel ihr auf, wie anstrengend das gewesen war. Im Musikunterricht war es ihr in letzter Zeit nicht mehr so wichtig gewesen, dass sie beim Singen in der ersten Reihe stand, damit ihr Musiklehrer sie auch wirklich hören konnte. Jetzt hatte sie einfach Freude am Singen und stellte sich dahin, wo sie sich gerade wohl fühlte. Sie merkte auch, dass sie sich weniger Druck machte, eine bestimmte Leistung zu erreichen, zum Beispiel im Sport. Es war ihr nicht mehr wichtig, ob ihre Sportlehrerin sie mochte, weil sie sportlich war. Entweder mochte sie sie, oder eben nicht. Dadurch fühlte sie sich sehr befreit und hatte das Gefühl, jetzt wieder mehr sie selbst sein zu können, weil sie nicht versuchte, den Vorstellungen anderer zu entsprechen. Aurie seufzte tief.
Noah hatte sie schon eine Weile nicht mehr gesehen. Sie hatte ihn zwar bei sich gespürt, aber er schwieg.
„Er wird schon wieder auftauchen.“, dachte Aurie „Wenn ich soweit bin, wird er mir wieder was Neues beibringen.“ Sie drehte einen Grashalm in ihrer Hand und beobachtete weiter den Schmetterling.
„Ich will Dir aber noch gar nichts Neues beibringen.“ hörte sie Noah sagen und als sie aufblickte, stand er ihr grinsend gegenüber. Aurie grinste zurück und genoss seinen Anblick, in dem sie immer wieder versinken konnte. Die tiefe Ruhe, die von ihm ausging, machte sich auch in ihrem Körper breit.
„Eigentlich will ich Dich nur fragen, was Deine innere Stärke ausmacht, die Du jetzt in Dir spürst.“ meinte Noah und ließ sich vor ihr ins Gras plumpsen.
„Was meine innere Stärke ausmacht?“ Aurie zog überrascht die Augenbraue hoch. „Keine Ahnung!“
„Naja, offensichtlich bist Du innerlich stärker geworden, wenn Du nicht mehr versuchst, der Vorstellung anderer zu entsprechen und Dich traust, mehr Du selbst zu sein, oder?“ fragte Noah sie herausfordernd.
Aurie dachte darüber nach und nickte langsam. Es war tatsächlich so, auch wenn sie es anders benannt hätte.
Noah lachte. „Aurie, das ist wunderbar! Wenn Du in Dir stark bist, dann ist es egal, was um Dich herum passiert oder was jemand von Dir erwartet. Du wirst Du sein und das tun, was mit Deinen inneren Werten und Deinem Sein übereinstimmt. Du rennst keiner Vorstellung mehr hinterher, die Du für besser als Dich selbst hältst. Gratuliere!“
Aurie war ganz erstaunt über Noah, wie er da so vor ihr saß und sie offensichtlich feierte. Ihr wurde erst langsam klar, dass sie wohl einen bedeutsamen Schritt geschafft hatte. Noah grinste sie weiter fröhlich an.
„Was macht Deine innere Stärke aus, Aurie? Was hat sich verändert?“ fragte er sie erneut.
„Ich glaube, ich kann besser damit umgehen, dass ich nicht alles kann.“ sagte Aurie nachdenklich. „Es hat mich immer sehr gestört, wenn jemand etwas besser konnte als ich. Vor allem, wenn ich mich total angestrengt habe und trotzdem nicht das Gleiche schaffen konnte. Ich habe dann immer gedacht, ich bin nicht gut genug. Das war ja auch das, was ich von den anderen gespürt habe. Und das hat mich immer sehr traurig gemacht.“
„Und jetzt?“ hakte Noah nach.
„Jetzt spüre ich das von den anderen auch noch. Aber ich frage mich, wie wichtig es mir ist das zu können. Und ob ich zufrieden damit bin, wie es jetzt gerade ist. Wenn ich zufrieden damit bin, wie es ist, dann stört es mich weniger, was die anderen denken. Wenn ich es nicht bin, dann ärgert mich das zwar noch, aber ich überlege jetzt, was ich tun kann und verzweifle nicht mehr so.“ schmunzelte Aurie.
Noah nickte und fragte weiter: „Was hat sich noch verändert?“
Aurie überlegte. „Wenn mich jemand kritisiert, dann stelle ich mich nicht mehr komplett in Frage und zweifle an mir. Es ist wirklich gut, dass ich jetzt weiß, was ich kann und was meine Gaben und Stärken sind. Jetzt wirft es mich nicht mehr so aus der Bahn. Ich kann besser darüber nachdenken, was ich mit der Kritik mache. Manchmal haben die Leute ja Recht und ich kann etwas lernen.“
„Und wie gehst Du damit um, wenn Dir jetzt ein Fehler passiert?“ wollte Noah wissen.
„Ich ärgere mich immer noch darüber.“ sagte Aurie. „Denn ich will es ja richtig machen und strenge mich an. Aber ich kann es jetzt besser annehmen, wenn ich etwas nicht kann oder mir ein Fehler passiert ist. Ich bin nicht mehr so streng mit mir und gebe mir die Chance, es nochmal zu probieren und es besser machen zu können. Mehr daraus zu lernen. Und ich kann akzeptieren, dass ich manche Dinge halt einfach nicht kann.“ Aurie lachte. „Vor allem kann ich mir besser verzeihen, wenn etwas schiefgelaufen ist. Das hilft mir auch, es nochmal zu versuchen oder mich bei jemandem zu entschuldigen.“ Aurie drehte weiter den Grashalm in ihrer Hand.
„Und durch was ist das alles möglich geworden?“ fragte sie Noah.
Aurie sah Noah ratlos an und zuckte mit den Schultern.
Noah grinste: „Schau, Aurie. Bevor Du gelernt hast, Dich selbst zu lieben, hast Du es abgelehnt, Dich auch mit Deinen Fehlern und Schwächen auseinanderzusetzen. Du bist nicht bei Dir geblieben, sondern hast Dich durch den Vergleich mit anderen immer wieder im Außen verloren. Du bist nicht Du selbst geblieben.“
Da musste Aurie Noah Recht geben.
„Und jetzt, wo Du Dich selbst lieben kannst, mit Deinen Fehlern und Schwächen, kannst Du bewusst entscheiden, wie Du damit umgehst, wo Du Dich verändern möchtest, was zu Dir gehört und womit Du zufrieden bist. Du bleibst in Verbindung mit Dir.“
Aurie nickte und staunte. Es hörte sich so einfach an, was Noah da erzählte, aber es war nicht leicht gewesen, auch die eigenen Fehler lieben zu lernen.
„Erinnere Dich an die Übung, Aurie, die ich Dir gezeigt habe: wenn Du Deinen Fokus auf Dein inneres Energiefeld legst, kannst Du die Verbindung zu Dir selbst noch weiter stärken. Dann bist Du noch mehr in Dir verankert und verlierst Dich weniger in der äußeren Welt und Deinem Denken.“
Aurie ließ den Grashalm sinken und setzte sich aufrecht hin.
„Oh ja, Noah! Kannst Du die Übung bitte nochmal mit mir machen?“ bat Aurie freudig.
„Schließ Deine Augen, Aurie.“ sagte Noah und nickte sanft.
„Atme wieder von einem Punkt in Deinem Körper zum anderen. Und zwar mit jedem Einatmen bis zu Deinem Scheitel am Kopf und mit jedem Ausatmen bis zu Deinen Fußsohlen.[1] Und jetzt lenke Deine Aufmerksamkeit auf das innere Energiefeld Deines Körpers. Fühlen sich Deine Hände, Arme, Beine und Füße, Dein Bauch, lebendig an? Kannst Du das feine Energiefeld in Deinem Körper fühlen, dass jedes Organ und jede Zelle mit Leben füllt? Richte Deine ganze Aufmerksamkeit auf das Gefühl Deines inneren Körpers, ohne darüber nachzudenken. Spüre einfach in Dich hinein. Es kann nur ein leichtes Kribbeln oder leichte Wärme sein, die Du wahrnimmst.[2]“
Aurie spürte, wie sich das feine Kribbeln, das sie schon beim ersten Mal gespürt hatte, als sie die Übung gemacht hatte, wieder in ihr ausdehnte. Mittlerweile konnte sie sich so gut darauf konzentrieren, dass sie das Kribbeln nicht nur in ihrer Hand, sondern auch in ihren Füßen und in ihrem Brustkorb fühlen konnte.
„Versuche, Deinen Fokus auf Deinen inneren Körper auszudehnen und schau, ob Du das Kribbeln auch in einem anderen Bereich in Dir wahrnehmen kannst.“
Aurie beobachtete ihren inneren Körper und da bemerkte sie, dass sich das Kribbeln auch auf ihre Stirn ausgedehnt hatte. Sie lächelte und atmete tief.
„Behalte immer etwas von Deiner Aufmerksamkeit in Dir, gib nicht alles nach außen. Dadurch kannst Du in Dir verwurzelt bleiben. Du kannst Dich auf das konzentrieren, was Du gerade tust, und Dich gleichzeitig dabei spüren. Dadurch schaffst Du eine andauernde Verbindung mit dem Sein. Je mehr Du Deine Aufmerksamkeit darauf schulst, desto intensiver wird es. Du schaffst eine Verbindung zwischen Deinem Körper und der tiefsten Essenz Deines Seins.[3]“ Mit diesen Worten beendete Noah die Übung.
Aurie öffnete langsam wieder ihre Augen und blickte ihn still und glücklich an.
„Ja, Aurie, verankere Dich weiter in Dir. Mach Dir Deine innere Stärke bewusst. Trainiere weiter, Dich selbst zu lieben, mit allen Stärken und auch Deinen Schwächen. Die innere Stärke ist notwendig, damit sich die Welt wandeln kann.“ Noah blickte Aurie mit einem tiefen, liebevollen Blick an und erhob sich dann.
Aurie sah zu, wie er langsam verschwand und blieb zufrieden an ihren Apfelbaum gelehnt noch eine Weile sitzen. Sie betrachtete die Wolken, wie sie über ihr vorbeizogen, und gleichzeitig spürte sie sich und ihren Körper und lächelte.
[1] Hawaiianische Atemtechnik, Piko-Piko Atmung. Piko bedeutet auf Hawaiianisch „Spitze“ oder „Punkt“.
[2] Tolle, E. (2008). Jetzt! Die Kraft der Gegenwart. 19. Auflage. Bielefeld: J. Kamphausen Verlag & Distribution GmbH.
[3] Tolle, E. (2021). Verbindung mit dem inneren Körper (Meditation): https://www.youtube.com/watch?v=6bDlD5ONbVg; und Habe tiefe Wurzeln im Innern (Meditation): https://www.youtube.com/watch?v=Aje4qb4YIjU
© Sara Hiebl