Aurie und die Verbundenheit

 

Aurie lehnte gedankenverloren an ihrem Apfelbaum und sah den Wolken dabei zu, wie sie über ihr vorbeizogen. Sie war dankbar um ihren Platz unter dem Baum, an dem sie diese Ruhe spüren und durchatmen konnte. Sie hatte gerade wieder die Übung mit dem Fokus auf ihren inneren Körper gemacht, die ihr Noah schon ein paar Mal gezeigt hatte. „Verankere Dich weiter in Dir.“ hatte Noah ihr gesagt. Es gab so viel Unruhe auf der Welt. Die Menschen hatten so viele Sorgen und Ängste. Aurie hatte das Gefühl, als hätten sie die Leichtigkeit und das Vertrauen in sich und ihre Kraft verloren.

 

Aurie dachte darüber nach, was Noah ihr über die Kraft der Gedanken beigebracht hatte. Die Gedanken, die sie gerade bei vielen Menschen wahrnehmen konnte, waren oft schwer und dunkel und diese Energie schickten sie in die Welt. Sie bemerkte, dass es den Menschen selbst damit auch nicht gut ging. Und je schlechter es ihnen damit ging, desto mehr verstärkten sich diese Gedanken und damit diese Energie. Aurie hatte eine Nachbarin, zu der sie immer ganz gerne gegangen war, um bei ihr einen heißen Kakao zu trinken und auf der Terrasse zu sitzen. Sie hatte immer die Freude der alten Frau gespürt, wenn sie bei ihr gewesen war und das hatte wiederum ihr Herz glücklich gemacht. Im Moment aber ging sie nicht mehr so gerne zu ihr. Die Freude über Auries Anwesenheit hatte kaum noch Raum im Herzen der alten Frau. Sie wetterte in einer Tour über das, was irgendjemand falsch machte. Ein Politiker, die Nachbarn oder wer auch immer. Sie prophezeite den nächsten Krieg und den Weltuntergang, wenn das so weitergehen würde. Sie hatte ständig Angst, dass sie sich bald nichts mehr kaufen könne, was Aurie sehr verwunderte, da sie offensichtlich nicht arm war. Diese Schwere war Aurie zu viel. Außerdem wollte sie sich von der Frau nicht sagen lassen, wen sie zu mögen hatte und wen nicht. Das war ja wohl ihre eigene Entscheidung! Sie ärgerte sich über den Unfrieden, den die alte Frau stiftete. Manche Nachbarn sprachen nicht mehr miteinander, weil sie sich von ihr hatten aufhetzen lassen.

 

„Hallo Aurie.“ hörte sie da Noah sagen und als Aurie den Blick von den Wolken abwendete, sah sie ihn strahlend vor sich stehen. Aurie freute sich riesig über sein erscheinen und wäre ihm am liebsten um den Hals gefallen, aber das geht ja bei einem Engel nicht. Sie konnte sich nicht satt sehen an seinem Strahlen, das immer so eine große Ruhe und Liebe in ihr auslöste. Es tat ihr einfach gut, ihn zu sehen und seine Energie zu spüren.

„Du hast ganz Recht, Aurie. Es geht darum, mit Dir selbst verbunden zu bleiben, aber auch im Miteinander in Verbundenheit zu bleiben und sich nicht spalten zu lassen.“

„Wie meinst Du das, „sich nicht spalten zu lassen“?“ fragte Aurie.

„Was passiert denn in Dir, wenn die alte Frau so schimpft? Was ist durch den Unfrieden, den sie stiftet, in Eurer Nachbarschaft passiert?“ forderte Noah sie auf nachzudenken.

„Naja, mehrere Nachbarn reden nicht mehr miteinander, weil sie sich so darauf versteift haben, Recht zu haben, dass sie in die totale Ablehnung gehen. Es macht großen Unmut und ist wahnsinnig anstrengend, sich davon nicht mitreißen zu lassen und immer gegenhalten zu müssen.“ sagte Aurie ärgerlich.

„Genau.“ sagte Noah. „Wenn Du nicht achtsam bist, lässt Du Dich von Dir selbst und dem, was Dir wichtig ist, wie Du leben möchtest, trennen. Oder von den Menschen, mit denen Du Dich gut verstehst oder auch eine Gemeinschaft bildest, wie zum Beispiel Eure Nachbarschaft.“

Aurie grollte vor sich hin und merkte, wie die Aussage von Noah ihre Wut auf die alte Frau verstärkte. „Wenn sie so weiter macht, führt das noch dazu, dass der ganze Ort sich streitet!“ schimpfte Aurie.

„Aurie, es ist gut, dass Du bemerkst, was so ein Verhalten auslösen kann. Es ist auch wichtig, dass Du die Wut zulässt, die es in Dir auslöst. Aber nutze die Wut, um Grenzen aufzuzeigen. Nicht, um in den Widerstand zu gehen und gegen jemanden zu sein. Sonst tust Du das Gleiche wie sie.“ mahnte Noah.

Aurie blickte beschämt zu Boden.

 

„Es geht nicht um Verteidigung, Angriff oder Abwehr, Aurie. Es geht darum, in Verbindung zu bleiben. Mit Dir selbst, aber auch untereinander.“ sagte Noah sanft. „In Verbindung zu bleiben mit Deinen Werten und dem, was Dir wichtig ist, was dem Wohle aller Menschen dient. In Verbindung zu bleiben mit der Liebe, die in Dir, die zwischen Euch schwingt. Es geht darum, in Verbindung zu bleiben und zusammenzuhalten. Aber nicht gegen jemand anderen, sondern für das, was Euch wichtig ist. Zusammenzuhalten aus der Liebe heraus. Dieser Zusammenhalt und diese Verbundenheit sind aus dem Herzen heraus geführt und genährt. Mit ihr ist es möglich, Grenzen aufzuzeigen, aber gleichzeitig das zu sehen, was Euch auch miteinander eint und verbindet. Der Fokus liegt nicht auf dem Trennenden, sondern auf der Einheit. Daraus kreiert sich eine tiefe Kraft und Stärke, die nicht gegeneinander gerichtet ist, sondern in der Ihr Euch einander tragt.“ erklärte Noah.

 

Aurie dachte über das nach, was Noah gesagt hatte. Wenn die Nachbarin nicht so schimpfen würde, würde sie gerne weiter mit ihr auf der Terrasse sitzen und Kakao trinken. Ob sie ihr sagen konnte, dass sie das Schimpfen lassen sollte, wenn sie bei ihr war? Schließlich verdarb das ihre Laune.

„Natürlich kannst Du ihr das sagen, Aurie. Du hilfst ihr sogar, wenn Du ihr sagst, was ihr Verhalten auslöst. Dann kann sie sich entscheiden: will sie Deine Gesellschaft oder will sie weiter schimpfen? Wenn Du nichts sagst, kann sie keine bewusste Wahl treffen und Du gehst aus Deiner Kraft, wenn Du Dich einfach nur zurückziehst. Das hilft der Welt nicht.“ bestärkte sie Noah.

 

„Wieso merkt sie denn nicht selbst, was sie da mit ihrem Geschimpfe anrichtet? Ihr muss doch aufgefallen sein, dass ich nicht mehr komme.“ fragte Aurie.

„Nicht alle Menschen denken so über das nach, was passiert, wie Du, Aurie.“ lächelte sie Noah an. „Viele Menschen sind so in ihren Gedanken und Mustern verstrickt, dass sie nicht mitbekommen, was ihr Verhalten auslöst, sie sind irritiert, ziehen aber die falschen Rückschlüsse oder suchen die Schuld bei den anderen.“

„So wie jetzt meine Nachbarn untereinander? Jeder will Recht haben und behauptet, der andere ist schuld, weil er so ein Sturkopf ist und die falsche Meinung hat. Und dann reden sie gar nicht mehr miteinander.“ sagte Aurie traurig und schüttelte den Kopf.

 

„Wenn großes Leid passiert, dann schaffen die Menschen es, sich gegenseitig zu helfen. Dann sind sie in der Lage, wieder miteinander verbunden zu sein, weil sie das Leid nachempfinden können. Das kannst Du bei großen Naturkatastrophen beobachten. Plötzlich können viele innere und äußere Grenzen fallen und die Menschen sind füreinander da. Es braucht aber nicht erst Leid dazu, Aurie. Diese Verbundenheit können die Menschen aktiv miteinander leben.“ erklärte Noah weiter.

„Aber wie denn?“ wollte Aurie wissen. „Wie ist es denn möglich, dass sie den Kontakt miteinander nicht verlieren?“ fragte Aurie.

„Wichtig ist, dass Du den Kontakt mit Dir selbst nicht verlierst.“ antwortete Noah. „Nur, wenn Du in Verbindung mit Dir selbst bleibst, kannst Du auch mit anderen in Verbindung gehen. Mit anderen Menschen, aber auch mit der Natur, mit Tieren, mit der Erde. Dann spürst Du, was der andere braucht – oder auch nicht braucht. Dann schwingst Du in der Einheit, im Miteinander.“ Noah blickt Aurie gutmütig an.

„Das leuchtet mir ein, Noah. Aber wie kann jemand, der die Verbindung mit sich verloren hat, wieder in Kontakt mit sich selbst kommen?“ wollte Aurie wissen.

 

„Ein paar Übungen habe ich Dir dazu schon gezeigt, Aurie. Sie alle helfen Dir, im Kontakt mit Dir zu bleiben. Zum Beispiel die Übung, die Du vorhin erst gemacht hast; den Fokus auf Deinen inneren Körper zu halten. Aber auch die Übung, wenn Du vorm Spiegel stehst und Dir liebevoll ins rechte Auge blickst, oder die Übungen zur Dankbarkeit helfen Dir dabei. Ein schneller Weg, um in Verbindung mit Deinem Körper zu bleiben oder zu kommen, ist die Atmung vom Scheitel bis zum Kopf, die ich Dir beigebracht habe.[1] Der Atem ist immer bei Dir. Wenn es sehr turbulent im Außen ist oder starke Emotionen einen packen, ist es für manche Menschen nur nicht so leicht, sich auf ihren Atem zu konzentrieren.

Daher zeige ich Dir jetzt eine Möglichkeit, wie Du noch tiefer in Verbindung kommen und Dich verankern kannst.“ sagte Noah.

Aurie richtete sich gespannt auf.

 

„Kannst Du Deinen Herzschlag spüren, wenn Du die Augen schließt?“ fragte Noah.

Aurie schloss die Augen. Ihn einfach so zu spüren, war gar nicht so leicht. Sie musste sich sehr konzentrieren, um ihn ganz leise wahrzunehmen.

„Das ist schwer, Noah!“ sagte Aurie.

„Nimm Deinen Daumen und leg ihn auf der anderen Hand unterhalb des Daumens ans Handgelenk, dort, wo man den Puls fühlen kann.“ wies Noah Aurie an.

Aurie legte ihren Finger an die Stelle und spürte sofort ihren Puls schlagen. Sie merkte, wie sie unmittelbar ruhig wurde und innerlich entspannte. Aurie staunte. Das war ihr nie bewusst gewesen.

„Schon seit Urzeiten nutzen die Menschen den Herzschlag zur Beruhigung und um in Verbindung miteinander zu kommen. Das Baby hört den Herzschlag der Mutter im Mutterlaib. Und wenn die Kinder auf der Welt sind, werden sie zur Beruhigung auf die Brust gelegt, wo sie den Herzschlag der Eltern hören. Partner kuscheln sich aneinander und legen ihren Kopf an die Brust des anderen, weil sie dort den Herzschlag hören. Der Herzschlag erinnert uns an unseren Ursprung, an den Rhythmus des Universums. In diesem Rhythmus sind wir alle miteinander verbunden.“ erklärte Noah.

Aurie lauschte und fühlte weiter ihren Herzschlag.

 

„Wenn Du täglich mehrmals in Verbindung mit Deinem Herzschlag gehst und Deine Wahrnehmung darauf trainierst, dann wirst Du ihn immer besser spüren können. Auch, wenn Du keinen Finger auf Dein Handgelenk legst.“ Noah zwinkerte ihr zu. „Du wirst merken, dass sich die Wahrnehmung Deines Herzschlags mit der Wahrnehmung Deines inneren Körpers verbindet. Beides zusammen hat eine enorme Kraft.

Genauso kannst Du auch in Verbindung gehen, wenn Du den Herzschlag von jemand anderem hörst. Zum Beispiel, wenn Du Deinen Kopf auf die Brust Deiner Großmutter legst. Dehne Deine Wahrnehmung vom Herzschlag Deiner Großmutter auf die Wahrnehmung Deines inneren Körpers aus. Versuche, beides zur gleichen Zeit wahrzunehmen. So werdet ihr eine noch tiefere und andere Ebene der Verbundenheit erreichen. Diese Ebene ist vom Verstand gelöst. Euer gemeinsames Sein schwingt sich aufeinander ein. Zwei tief Verbundene, die gemeinsam in der Stille sitzen.“ Noah schwieg.

Aurie spürte immer noch ihren Herzschlag.

„Irgendwann, Aurie, wenn Du diese Verbindung gut eingeübt hast, dann kannst Du Dich sehr leicht in diesen Rhythmus, in die Verbindung zu Dir und zu anderen einschwingen, ohne Deinen Kopf auf der Brust des anderen liegen zu haben.“ Noah grinste sie an. „Und das ist die Grundlage, um sich auf alles Leben einzuschwingen, mit allem in Verbindung zu gehen. Wenn den Menschen das gelingt, dann können sie in Frieden miteinander und in Frieden mit der Erde leben.“ schloss Noah.

„Ist das möglich?“ fragte Aurie hoffnungsvoll.

„Ja, Aurie, das ist möglich. Aber jeder einzelne muss seinen Beitrag dazu leisten. Das wird die Welt verändern.“

Aurie seufzte.

„Es hat schon längst begonnen.“ sagte Noah sanft.

 

Aurie hatte das Gefühl, als würde er ihr wieder über den Kopf streicheln und sie lächelte ihn dankbar an. Noah erhob sich, winkte ihr zu und verschwand.

 

Aurie lehnte an ihrem Apfelbaum und spürte ihren Herzschlag. Und plötzlich hatte sie das Gefühl, als könnte sie den Atem des Baumes wahrnehmen. Sie blickte nach oben in seine Krone und tiefe Dankbarkeit breitete sich in ihr aus. Sie war nicht allein. In diesem Moment hatte sie verstanden, was Noah ihr erklärt hatte.


[1] Hawaiianische Atemtechnik, Piko-Piko Atmung. Piko bedeutet auf Hawaiianisch „Spitze“ oder „Punkt“.

 


© Sara Hiebl

Du darfst die Seite gerne teilen: