Aurie und die Trauer


Aurie saß mit hochgezogenen Beinen auf der Bank am Teich, auf der sie mit ihrer Großmutter öfter gesessen hatte. Sie blickte aufs Wasser und Tränen rannen ihr übers Gesicht. Sie vermisste ihre Großmutter so sehr. Hier am Teich konnte sie traurig sein, konnte ihren Gefühlen freien Lauf lassen, musste sie nicht zurückhalten. Sonst versuchte sie stark zu sein. Ihrer Mutter ging es seit dem Tod ihrer Großmutter nicht so gut. Sie wollte ihre Mutter nicht auch noch mit ihrer eigenen Traurigkeit belasten, da sie spürte, dass es dieser dann schwerer ums Herz wurde. Wenn ihr Vater da war, nahm er sie oft in den Arm, küsste ihr Haar und sie spürte, dass sie sich dann fallen lassen konnte. Er war einfach da und hielt sie fest. In seinen Armen war Aurie geborgen und konnte mit allen Gefühlen, die gerade da waren, einfach sein. Er war wie ein Anker für sie. Aurie seufzte tief.

 

„Aurie.“ hörte sie da Noah sagen und als sie aufblickte, kam er um den Teich herum auf sie zu. Sie lächelte und merkte, wie sie innerlich aufatmete. Es tat ihr gut, ihn zu sehen und ihr Blick verlor sich in seinem orange-goldenen Gewand.

„Du musst Deine Gefühle nicht zurückhalten, nur weil Du die der anderen spüren kannst, Aurie. Erinnerst Du Dich daran, dass ich Dir das gesagt habe?“ fragte Noah liebevoll.

Aurie nickte.

„Aber Du hältst sie zurück, um Deine Mutter vor ihrer eigenen Trauer zu schützen.“ Noah hob liebevoll tadelnd den Zeigefinger. „Das ist Unsinn und hilft Euch beiden nicht. Merkst Du, wie schwer Du es Dir selbst damit machst? Alles staut sich in Dir an und bricht dann irgendwann aus Dir heraus.“

Aurie seufzte tief. „Ja.“ sagte sie leise. „Irgendwann läuft die Trauer einfach in mir über und sie muss aus mir heraus.“

„Wenn Du Deine Trauer und Deine Gefühle so lange zurückhältst und ihnen keinen Raum gibst, dann ist das wie bei einem Stausee, Aurie. Irgendwann ist er zum Bersten voll und wenn sich dann die Schleusen öffnen, bricht das Wasser mit gewaltiger Wucht hindurch. Deine Trauer überwältigt Dich dann und Du verlierst den Halt.“ Noah schüttelte den Kopf.

Aurie zuckte mit den Schultern. Sie war ein bisschen ratlos. Was sollte sie denn machen?

 

„Auf die Gefahr hin, dass ich mich wiederhole.“ sagte Noah mit einem leichten Lächeln. „Deine Gefühle dürfen genauso sein und ihren Raum haben. Es ist wichtig, gemeinsam darüber zu sprechen und herauszufinden, wie ihr damit umgeht. Wenn ihr die Trauer teilt, ist es leichter. Natürlich spürst Du erstmal die Schwere bei Deiner Mutter, wenn Du ihr Deine Gefühle zeigst. Du bringst sie dadurch dazu, ihre eigenen Gefühle anzusehen. Außerdem hilft es Deiner Mutter in ihrer eigenen Trauer, wenn Du ihr die Chance gibst, auch für Dich da zu sein, in Verbindung mit Dir zu sein und Dir zu helfen.[1] Wenn Du Deine Gefühle unterdrückst, gehst Du aus der Verbindung mit Dir selbst und mit anderen. Du spürst, was es mit Dir macht.“

„Ja. Ich fühle mich so oft energielos und leer. Manchmal liege ich einfach nur auf meinem Bett, hab die Beine angezogen und starre vor mich hin. Ich will dann gar nichts machen.“ seufzte Aurie.

„Erinnere Dich, was ich Dir über die Bedeutung der Verbundenheit beigebracht habe.“ sagte Noah. „Und vor allem, erinnere Dich auch, welche Möglichkeiten ich Dir gezeigt habe, um wieder in Verbindung mit Dir oder auch mit Deiner Großmutter zu kommen. Du musst das immer wieder trainieren, so wie Fahrradfahren. Üben, üben, üben. Bis Du es spielend kannst. Auch in solchen Situationen, wenn Du trauerst.“ forderte Noah sie auf.

Er blickte sie an und Aurie verstand nur langsam, dass er darauf wartete, dass sie wieder in Verbindung mit sich ging. Er hatte ja Recht, sie war innerlich aus dem Gleichgewicht geraten.

 

Aurie versuchte, sich auf ihren Herzschlag zu konzentrieren, aber es wollte ihr nicht so recht gelingen. Ihre Gedanken begannen immer wieder zu kreisen. Sie seufzte und schüttelte den Kopf. „Es geht nicht, Noah. Kannst Du mir nicht helfen?“

Noah nickte. „Setz Dich in den Schneidersitz.“ sagte er und lächelte sie liebevoll an. „Ich werde meine Flügel um Dich legen, damit Du zur Ruhe kommst und Dein Geist sich wieder fokussieren kann. Schließ die Augen.“

Aurie setzte sich im Schneidersitz und schloss die Augen. Sie atmete tief, so wie Noah es ihr beigebracht hatte, von Kopf bis Fuß.[2] Da spürte sie, wie sich wieder eine wohlige Wärme in ihrem ganzen Körper ausbreitete. Sie fühlte sich ganz eng und liebevoll gehalten und ihr Herz füllte sich mit Freude. Sie wusste, Noah hatte seine Flügel in diesem Moment um sie gelegt. Sie genoss das Gefühl, gehalten zu werden und ließ sich in diese Umarmung fallen. Atemzug für Atemzug spürte sie, wie sie sich wieder mehr entspannen konnte.

„Deine Seele ist immer gehalten, Aurie. Sie ist immer mit der Quelle der Liebe verbunden. Wenn Du auf die Welt kommst, dann wird das Gehalten-Werden körperlich, durch diejenigen, die Dich lieben. Erinnere Dich an dieses Getragen sein, an das Gehalten-Werden durch Deine Großmutter. Diese Erfahrung ist tief in Deinem Körper gespeichert und Du kannst sie immer wieder in Dir wecken. Egal wie lange es her ist. Konzentriere Dich weiter auf Deinen Atem und lass das Gefühl in Dir zurückkommen.“ hörte sie Noah sanft sagen. „Erinnere Dich, wie Deine Großmutter Dich gehalten hat. An ihren Herzschlag, an die Sicherheit und die Ruhe, die Du in diesen Momenten in Dir gespürt hast. Gehalten-Werden bedeutet Geborgen-Sein, egal wie lange dieser Moment angedauert hat, egal wie lange er her ist. Wenn Du das Gefühl in Dir zurückholst, holst Du auch die Sicherheit und die Ruhe, das Geborgen-Sein in Dir zurück. Wenn es Dir hilft, kannst Du selbst Deine Arme um Dich legen, um Dich besser zu spüren.“

Aurie legte tatsächlich ihre Arme um sich, da sie das Gehalten-Werden wirklich spüren wollte. Sie saß mit geschlossenen Augen da, umarmte sich und atmete tief. Und nach einer Weile kam sie wieder, die Erinnerung: Aurie konnte sich als kleines Baby sehen, wie ihre Großmutter sie an ihrer Brust hielt, Auries Kopf auf ihrer Schulter ruhte und sie schlief. Sie spürte die Liebe, die zwischen ihrem Herzen und dem ihrer Großmutter floss. Und da konnte sie plötzlich auch wieder ihren Herzschlag wahrnehmen und sich darauf konzentrieren. Um ihn noch besser zu spüren, legte sie ihren Daumen auf die andere Hand, unterhalb des Daumens ans Handgelenk, dort, wo man den Puls fühlen kann. Sie merkte, wie sie noch ruhiger wurde und noch tiefer entspannten konnte. Es tat ihr gut, wieder die Liebe ihrer Großmutter zu spüren, in Verbindung mit ihr zu sein. Und sie verstand, was Noah gemeint hatte. Sie musste es wirklich üben, in Verbindung zu bleiben. Die Verbindung zur Liebe und die zu ihrer Großmutter war nicht verloren gegangen. Sie hatte sich durch ihr Verhalten nur davon getrennt, wie wenn man einen Stecker aus der Steckdose zieht. Aurie hörte in sich das Lied, dass ihr ihre Großmutter immer gesungen hatte, und sie wusste, dass sie in diesem Moment bei ihr war. Ihr Herz war voller Dankbarkeit. Sie seufzte tief.

 

Nach einer Weile öffnete sie die Augen wieder und blickte auf Noah, der vor ihr stand und sie beobachtete.

„Danke.“ sagte Aurie.

Er lächelte sie an. „Trauer erinnert an die Tiefe Deiner Liebe, Aurie. Ohne Liebe gibt es keine Trauer. Wenn Du also Trauer in Dir spürst, so unangenehm und schmerzhaft sie auch manchmal sein mag, erinnert sie Dich in Wirklichkeit an die Schönheit dieser Liebe.[3] Die bleibt bestehen, wenn Du in der Verbundenheit bleibst. Liebe ist an keine Form gebunden.“

„Warum ist Trauer notwendig?“ fragte Aurie.

„Trauer ist eine emotionale Reaktion auf Verlust. Sie ist die Notwendigkeit, sich an eine veränderte Lebenssituation anzupassen. Sie ist ein wichtiger Teil des Lebens, denn es ist notwendig, sich mit Verlusten und Veränderungen auseinanderzusetzen und sie nicht zu unterdrücken. Die Auswirkungen von unterdrückter Trauer und fehlender Auseinandersetzung damit kannst Du überall auf der Welt beobachten. Befassen sich die Menschen nicht mit dem Schmerz, der durch ihr Handeln, zum Beispiel durch Kriege, entstanden ist, wird sich die Geschichte immer wieder wiederholen. Bis jemand bereit ist, den Schmerz zu fühlen, zuzulassen und sich damit auseinanderzusetzen. Nur, wenn Trauer zugelassen wird, kann auch Raum für Heilung entstehen. In der Auseinandersetzung mit der Trauer ist es möglich, aus den Erfahrungen zu lernen und die Zukunft darauf aufbauend zu gestalten. Trauer ist auch notwendig, um sich von alten Dingen zu verabschieden und sich für neue Erfahrungen zu öffnen. Das kann auch eine neue Lebensphase sein, wie der Übergang von der Jugend ins Erwachsenenalter.[4] Deshalb ist es auch notwendig, dass Deine Mutter jetzt trauert. Lass Deine Gefühle und die Gefühle Deiner Mutter zu, auch wenn Du ihre Schwere spürst. Lass sie Dir in Deinem Trauerprozess helfen. Denn das hilft ihr.“ mahnte Noah an. „Es ist notwendig, dass Ihr Euch mit der veränderten Situation durch den Tod Deiner Großmutter beschäftigt. Macht Euch bewusst, was ihr Tod in Euch auslöst. Setzt Euch damit auseinander. Entwickelt einen Umgang damit und gestaltet Euren weiteren Weg, damit Ihr Euch für neue Erfahrungen öffnen könnt und nicht in der Vergangenheit hängen bleibt.“

Aurie nickte. „Es wird noch ein bisschen dauern, glaube ich.“

„Das ist völlig in Ordnung. Es ist ein Trauerprozess. Kein Wechsel, wie wenn man das Licht aus- und anschaltet. Gib Dir Zeit dafür. Aber vor allem, bleib in der Verbundenheit, bleib in der Liebe. Lass Deine Gefühle zu, sprich darüber, sorge für Dich.“ erinnerte sie Noah nochmal eindrücklich. Er lächelte sie an. „Du kannst gleich damit anfangen, das zu üben.“ sagte er und zwinkerte ihr zu. Er deutete hinter Aurie und als sie sich umdrehte, sah sie ihre Mutter vom Haus aus auf sich zukommen. Sie blickte zurück zu Noah, doch er war schon verschwunden.

 

Ihre Mutter kam zu ihr. „Darf ich mich zu Dir setzen?“

Aurie nickte. „Kannst Du mich im Arm halten?“ fragte sie.

„So gerne!“ antwortete ihre Mutter. Sie zog sie an sich, küsste ihr Haar und drückte sie ganz fest. Aurie spürte, wie die Tränen ihrer Mutter in ihr Haar kullerten. Jetzt konnte sie es zulassen. Sie saßen einfach gemeinsam da und weinten miteinander. Denn auch, wenn Aurie ihre Großmutter weiterhin spüren konnte, es war doch ein Verlust, dass sie im Außen nicht mehr da war. Und daran mussten sie sich erstmal gewöhnen.


[1] Dalai Lama

[2] Hawaiianische Atemtechnik, Piko-Piko Atmung. Piko bedeutet auf Hawaiianisch „Spitze“ oder „Punkt“.

[3] Dalai Lama, Desmond Tutu, Abrams, D. C. (2016). The Book of Joy: Lasting Happiness in a Changing World. New York: Viking.

[4] Hübl, T. (2021). Kollektives Trauma heilen. Persönliche und globale Krisen verstehen und als Chance nutzen. München: Irisiana Verlag.

 

© Sara Hiebl

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