Aurie und das Mitgefühl


Aurie lag unter ihrem Apfelbaum im Gras und beobachtete die Wolken am Himmel. Inzwischen war es vier Monate her, dass ihre Großmutter gestorben war. Ihr ging es besser, seitdem sie ihre Gefühle zulassen und darüber sprechen konnte. Dadurch war es leichter für sie geworden, herauszufinden, was sie brauchte und für sich zu sorgen. Wenn die Sehnsucht nach ihrer Großmutter zu groß wurde, hatte sie sich angewöhnt, sich auf die Bank am Teich zu setzen und manchmal ein Lied zu singen, dass sie mit ihrer Großmutter immer gesungen hatte. Dann machte sie eine der Übungen zur Verbundenheit, die ihr Noah beigebracht hatte, und öffnete ihr Herz für die Liebe zu ihrer Großmutter. Sie liebte das Gefühl, wenn sie sie dann ganz nah bei sich spüren konnte. Und dann erzählte sie ihr einfach alles, was ihr gerade wichtig war. Manchmal nur still in ihrem Herzen, manchmal laut. Das tat ihr gut. Aurie merkte, dass ihre Fröhlichkeit zurückgekehrt war. Sie konnte wieder ausgelassen über die Wiese tanzen. Das hatte sie auch soeben gemacht, bevor sie sich unter ihren Apfelbaum ins Gras gelegt hatte.

 

Wie sie da im Gras lag und die Wolken beobachtete, kam ihr wieder das Erlebnis mit ihrem Vater und dem Bettler in den Sinn, als sie ungefähr drei Jahre alt gewesen war. Sie wusste nicht, warum sie ausgerechnet jetzt wieder daran denken musste. Damals waren sie an einem Park vorbeigekommen und dort hatte am Eingang ein alter Mann am Boden gesessen, in zerschlissene Kleider gehüllt, hatte einen Hut vor sich und gebettelt. Er war so traurig gewesen und hatte Aurie sehr leidgetan. Sie hatte spüren können, dass der Mann einsam war. Aurie war zu ihm hingegangen und hatte sich neben ihn setzen wollen, um bei ihm zu sein. Aber ihr Vater hatte sie weggezogen und gesagt, dass gehöre sich nicht, man setze sich nicht zu Bettlern. Aurie war immer noch zutiefst traurig und bestürzt darüber, wenn sie daran zurückdachte. Sie seufzte.

 

„Warum bist Du so bestürzt darüber, Aurie?“ hörte sie da Noah sagen.

Sie setzte sich auf und strahlte Noah an, weil sie sich so darüber freute, ihn zu sehen. Sie spürte die tiefe Liebe durch sich strömen, die von Noah ausging. Sie genoss seinen Anblick und war so darin versunken, dass sie gar nicht auf Noahs Frage antwortete.

Noah wiederholte seine Frage: „Warum bist Du so bestürzt darüber, Aurie?“

Aurie zuckte mit den Schultern. „Ich weiß nicht. Es macht mich traurig, dass ich nicht meinem Herzen folgen und bei dem Mann sitzen durfte. Aber ich glaube, ich bin vor allem auch bestürzt darüber, dass mein Vater, der so liebevoll sein kann, in diesem Moment so hart war. Es fühlte sich an, als würde er vollkommen ausblenden wollen, dass der arme Mann existierte. Ich glaube, das beschäftigt mich daran am meisten.“ „Ich möchte Dir heute etwas über Mitgefühl erklären, Aurie. Du bist mit Deinem Mitgefühl tief verbunden und strahlst es aus der Tiefe Deines Herzens in die Welt. Das ist ein Geschenk für jeden, der Dir begegnet. Es ist wichtig, dass Du Dir dieses Geschenk bewahrst.“ sagte Noah eindringlich.

Jetzt war Aurie neugierig.

 

„Mitgefühl ist von Geburt an in jedem Kind vorhanden. Das siehst Du daran, dass ganz kleine Kinder aufeinander zugehen, wenn sie Leid in jemand anderem wahrnehmen, und demjenigen mit Liebe begegnen. Das ist der natürliche Impuls und der Wunsch, dem anderen zu helfen, sein Leid zu lindern.“ Noah blickte Aurie gutmütig an. „Das ist genau das, was Du mit drei Jahren gemacht hast, als Du dem Mann im Park begegnet bist.“

„Also ist es gut, dass ich das gemacht habe?“ fragte Aurie.

„Selbstverständlich!“ bestärkte sie Noah. „Mitgefühl und Liebe sind grundlegend für das Überleben der Menschen und die Quelle von innerem und äußerem Frieden.[1]

„Wenn das so grundlegend ist, warum verlernen das die Menschen dann? Ich erlebe meinen Vater als so liebevoll. Aber wenn er mit dem Leid von anderen Menschen konfrontiert ist, dann wird er ganz hart und verschließt sein Herz. Das verstehe ich nicht.“ entgegnete Aurie.

Noah lächelte gutmütig. „Das hat mehrere Gründe, Aurie. Viele Kinder verlernen Mitgefühl durch Erziehung. Ihnen wird beigebracht, dass es nicht in Ordnung ist, mit-zu-fühlen, und so beginnen sie ihre Wahrnehmung in Frage zu stellen und an ihren Gefühlen zu zweifeln. Sie lernen von den Erwachsenen, nicht auf ihre inneren Impulse zu hören und dagegen zu handeln. Schau, sogar Du hast mich gefragt, ob es in Ordnung war, wie Du gegenüber dem Mann im Park empfunden hast.“ Noah blickte Aurie an und wartete kurz.

„Naja.“ meinte Aurie. „Ich liebe meinen Vater. Und auch, wenn ich traurig darüber bin, dass ich meinem Gefühl nicht nachgehen durfte, habe ich doch darauf vertraut, dass es Gründe geben würde, warum es nicht in Ordnung war.“

„Genau. Kinder sind in einem natürlichen, tiefen Vertrauen zu denen, die sie lieben.“ fuhr Noah fort. „Daher stellen sie auch nicht in Frage, ob das Verhalten richtig ist, das ihnen beigebracht wird. Warum auch? Das ist völlig normal. So funktioniert Lernen auf der Erde. Wenn Du aber gegen Deine natürlichen Impulse handelst und Deiner Wahrnehmung nicht mehr vertraust, dann verlierst Du die Verbundenheit zu Dir selbst und zum All-Einen. Du versuchst anders zu sein, als es Deiner Natur entspricht. Dieser Verlust der Verbundenheit führt dazu, dass ein natürlicher Schutz wegfällt. Aus dem Mitgefühl für andere, das von tiefer Liebe getragen ist, wird dann Mitleid, wenn Du mit schweren Emotionen und Leid anderer konfrontiert wirst. Mitleid heißt, Du leidest mit dem anderen mit, erlebst seinen Schmerz und unter Umständen auch die gleichen körperlichen Reaktionen. Das führt zu einer emotionalen Überforderung, da Du die Emotionen anderer nicht lösen kannst, sie aber plötzlich übernommen hast. Dieses Leid halten die meisten Menschen nicht aus, weshalb sie, um sich davor zu schützen, eine übermäßige Abgrenzung aufbauen. Das ist das, was Du bei Deinem Vater erlebst, wenn er mit dem Leid anderer Menschen konfrontiert ist.“ Noah blickte Aurie an, um zu sehen, ob sie ihm folgen konnte.

 

„Also geht er in diesem Moment aus seiner Liebe heraus, anstatt sie zu nutzen, um sich zu schützen?“ mutmaßte Aurie.

„Ganz genau.“ bestätigte Noah. „Wenn die Menschen zu oft die Erfahrung gemacht haben, dass sie mit dem Leid anderer überfordert sind und diesen Schmerz nicht aushalten, dann versuchen sie sich übermäßig davon abzugrenzen, um weiteren Schmerz in sich zu verhindern. Das ist verständlich. Aber der falsche Weg. Abgrenzung verstärkt nur weiter den Verlust der Verbundenheit und die Verbindung mit der Liebe und ihrem Herzen. Das führt dazu, dass die Menschen Leid erschaffen, anstatt dazu beizutragen, Leid zu lindern, wo es ihnen möglich ist.“

Aurie dachte über das nach, was Noah gesagt hatte. „Mein Vater hat nicht gemerkt, warum es mir wichtig war, mich zu dem armen Mann zu setzen. Er hat nicht gemerkt, wie traurig es mich gemacht hat, dass er mich weggezogen hat. Und er hat auch nicht gemerkt, dass er mich mit seiner Härte verletzt hat, obwohl er mich liebt.“ folgerte Aurie.

Noah nickte. „Und es führt auch dazu, dass die Menschen sich selbst gegenüber härter werden und gegenüber eigenen Fehlern und Schwächen weniger mitfühlend und nachsichtig mit sich selbst sind. Sie handeln gegen ihre inneren Impulse und spüren nicht mehr, was sie brauchen. Darüber haben wir ja schonmal gesprochen.“

 

Aurie schwieg und dachte weiter nach. Nach einer Weile sagte sie: „Aber Noah, wenn Mitgefühl von Geburt an in jedem Menschen vorhanden ist und sie es nur verlernt haben, können sie dann nicht auch lernen, wieder mitfühlend zu sein?“

Noah lächelte strahlend. „Selbstverständlich können sie das! So würde sich auch einiges auf der Erde verändern, wenn die Menschen das wieder lernen würden.“

„Kannst Du mir zeigen, wie?“ wollte Aurie wissen.

Noah nickte. „Schließ die Augen, Aurie, und achte auf Deinen Atem.“

Aurie beobachtete, wie ihr Atem sanft kam und ging.

„Hast Du heute Morgen die Übung gemacht, bei der Du Dir ins rechte Auge geblickt hast?“ fragte Noah.

Aurie nickte und atmete weiter.

„Erinnere Dich an Deinen Blick auf Dich selbst, lass Dich in diese tiefe Ruhe zurücksinken.“ wies Noah sie an.

Aurie merkte, wie sich die liebevolle Güte wieder in ihr ausdehnte, die sie immer spürte, wenn sie sich im Spiegel ins Auge blickte.

„Sammle diese liebevolle Güte in Deinem Herzensraum. Vielleicht magst Du Dir die Hand auf Dein Herz legen, wenn es Dir dann leichter fällt. Stelle Dir jetzt eine Person oder ein Tier vor, dass Dir nahesteht und bei der es Dir besonders leichtfällt, Dein Herz zu öffnen und Deine liebevolle Güte zu ihr strahlen zu lassen.“ Noah wartete kurz, bis Aurie sich für eine Person entschieden hatte.

Sie beschloss, die Übung mit ihrem Vater zu machen.

„Achte bewusst auf das zarte goldene Band, dass von Deinem Herz zum Herzen der anderen Person fließt. Lass Dir Zeit, die Verbindung herzustellen. Und jetzt wiederhole für Dich folgende Wünsche:

-           Mögest du sicher und beschützt sein. Mögest du sicher und beschützt sein.

-           Mögest du glücklich und in Frieden sein. Mögest du glücklich und in Frieden sein.

-           Mögest du gesund sein und Heilung erfahren. Mögest du gesund sein und Heilung erfahren.

-           Mögest du mit Leichtigkeit leben. Mögest du mit Leichtigkeit leben.“

 

Noah machte eine kurze Pause.

Aurie atmete tief und wünschte ihrem Vater aus tiefstem Herzen.

 

„Jetzt lenke Deinen Fokus auf Dein eigenes Herz und schenke Dir selbst diese vier Wünsche.“ setzte Noah fort.

-           „Mögest du sicher und beschützt sein. Mögest du sicher und beschützt sein.

-           Mögest du glücklich und in Frieden sein. Mögest du glücklich und in Frieden sein.

-           Mögest du gesund sein und Heilung erfahren. Mögest du gesund sein und Heilung erfahren.

-           Mögest du mit Leichtigkeit leben. Mögest du mit Leichtigkeit leben.“

 

Aurie lenkte ihre Aufmerksamkeit zurück auf sich und ließ die Wünsche einen nach dem anderen tief in ihr Herz einsinken. Zu der liebevollen Güte, die sie in ihrem Herzen spürte, gesellte sich ein stiller Frieden, der sich in ihre ausdehnte.

 

„Dehne die Wünsche weiter aus, auf Menschen, die Dir nahestehen, wie Deine Familie und Freunde.“ wies Noah sie weiter an.

Und Aurie sendete die Wünsche aus der liebevollen Güte heraus zu ihrer Mutter, ihrer Großmutter, ihren Freunden.

-           Möget ihr sicher und beschützt sein. Möget ihr sicher und beschützt sein.

-           Möget ihr glücklich und in Frieden sein. Möget ihr glücklich und in Frieden sein.

-           Möget ihr gesund sein und Heilung erfahren. Möget ihr gesund sein und Heilung erfahren.

-           Möget ihr mit Leichtigkeit leben. Möget ihr mit Leichtigkeit leben.

 

„Und jetzt schicke aus Deiner Güte heraus diese Wünsche an Menschen, die Du nicht magst oder mit denen Du Schwierigkeiten hast. Achte darauf, Dein Herz offen zu halten und die liebevolle Güte weiter fließen zu lassen.“ leitete Noah sie weiter an.

Aurie dachte an Paul und an einen Lehrer, den sie nicht besonders mochte.

-           Mögest du sicher und beschützt sein. Mögest du sicher und beschützt sein.

-           Mögest du glücklich und in Frieden sein. Mögest du glücklich und in Frieden sein.

-           Mögest du gesund sein und Heilung erfahren. Mögest du gesund sein und Heilung erfahren.

-           Mögest du mit Leichtigkeit leben. Mögest du mit Leichtigkeit leben.

 

„Dehne Deine Güte weiter auf Menschen aus, die Du nicht kennst, wie Menschen im Krieg oder kranke Menschen.“ hörte Aurie Noah weiter sagen.

Aurie musste an all die Kinder im Krieg denken, die nicht genug zu essen hatten, die nicht in die Schule gehen konnten, die nicht sorgenfrei spielen konnten. Voller liebevoller Güte wiederholte sie für sie die vier Wünsche:

-           Möget ihr sicher und beschützt sein. Möget ihr sicher und beschützt sein.

-           Möget ihr glücklich und in Frieden sein. Möget ihr glücklich und in Frieden sein.

-           Möget ihr gesund sein und Heilung erfahren. Möget ihr gesund sein und Heilung erfahren.

-           Möget ihr mit Leichtigkeit leben. Möget ihr mit Leichtigkeit leben.

 

„Und zuletzt, sende die Wünsche an alle Lebewesen.“ schloss Noah.

-           Mögen alle Lebewesen sicher und beschützt sein. Mögen alle Lebewesen sicher und beschützt sein.

-           Mögen alle Lebewesen glücklich und in Frieden sein. Mögen alle Lebewesen glücklich und in Frieden sein.

-           Mögen alle Lebewesen gesund sein und Heilung erfahren. Mögen alle Lebewesen gesund sein und Heilung erfahren.

-           Mögen alle Lebewesen mit Leichtigkeit leben. Mögen alle Lebewesen mit Leichtigkeit leben.

„Atme tief und spüre Deinen Herzensraum. Und wenn Du soweit bist, öffne langsam wieder Deine Augen.“ beendete Noah die Übung.

 

Aurie öffnete nach einer Weile die Augen und blickte Noah still an.

„Danke“, formulierte sie wortlos mit den Lippen.

Noah lächelte. „Diese Metta-Mediation[2] kannst Du auch variieren, indem Du die Sätze ergänzt oder veränderst, je nachdem, wie es sich für Dich passend anfühlt.“

„Ich werde die Übung meiner Religionslehrerin vorschlagen. Vielleicht ist sie ja bereit, sie öfter mit uns zu machen.“ sagte Aurie.

„Das ist eine sehr schöne Idee, Aurie. Sie wird Euch in der Klasse stärken und Euch wieder mehr zusammenbringen.“ bestärkte sie Noah. „Und sie wird auch Deinem Vater helfen, seine Liebe zu stärken und im Herzen offen zu bleiben.“ Noah zwinkerte ihr zu und erhob sich. Dabei tat er wieder so, als würde er sein Gewand ausklopfen, was Aurie immer zum Lachen brachte.

Sie winkte ihm zu, denn sie wusste, er würde jetzt verschwinden. Dann ließ sie sich zurück ins Gras fallen und betrachtete wieder die Wolken, wie sie über ihr vorbeizogen. In ihr klangen noch die vier Wünsche nach und sie spürte einen tiefen Frieden in ihrem Herzen. Nach einer Weile schlenderte sie ins Haus zurück. Sie wusste, ihr Vater würde bald von der Arbeit nach Hause kommen und sie wollte Zeit mit ihm verbringen.


[1] Dalai Lama

[2] Salzberg, Sh. (2003). Metta Meditation - Buddhas revolutionärer Weg zum Glück. Geborgen im Sein. Freiburg: Arbor.


© Sara Hiebl

Du darfst die Seite gerne teilen: