Aurie und der Frieden


Aurie saß gedankenverloren am Teich im Garten und ließ ihre Füße darin baumeln. Es war schwül und ein Gewitter lag in der Luft. Sie seufzte. Gerade hatte sie wieder die Metta-Meditation[1] gemacht, die Noah ihr beigebracht hatte. Sie wünschte, dass der tiefe Frieden, den sie danach immer so intensiv in ihrem Herzen spürte, auch in die Welt getragen würde. Sie hatte ihrer Religionslehrerin die Übung erklärt und war erstaunt über ihre Reaktion gewesen. Die Lehrerin hatte zu strahlen begonnen, Aurie die Hand auf die Schulter gelegt und gesagt: „Das machen wir! Ich kenne die Meditation, aber ich habe mich noch nicht getraut, sie mit euch zu machen.“ Jetzt machten sie seit ein paar Wochen immer am Ende der Religionsstunde die Metta-Meditation. Aurie fand, dass der Schultag danach in der Klasse viel ruhiger und friedlicher ablief. Für sie war es dann weniger anstrengend.

 

An den anderen Tagen gab es viel öfter Streit, die Kinder ärgerten sich gegenseitig, es gab mehr Vergleich und Kampf darum, wer der Bessere war. Aber was für Aurie am schwersten war: der ewige Versuch, die Meinung des anderen zu vernichten und die eigene Sichtweise durchzusetzen. Sie seufzte wieder. An solchen Tagen saß sie oft am Rand des Schulhofs und hatte keine Lust mehr unter den anderen Kindern zu sein. Sie konnte diese Lagerbildung und das Gegeneinander kaum aushalten. Zu oft hatte sie versucht, für jemanden einzustehen und war dabei selbst zwischen die Fronten geraten und Ziel des Angriffs geworden. Sie schüttelte den Kopf.

 

„Machst Du Dir schon wieder so schwere Gedanken, Aurie?“ hörte sie da Noah sagen und blickte auf. Noah stand auf der anderen Seite vom Teich und lächelte sie an. Er kam um den Teich herum zu ihr und tat so, als würde er seine Füße ebenfalls ins Wasser hängen. Aurie musste lachen.

„Ich mache mir Gedanken darum, wie es gelingt, Frieden zu schaffen.“ sagte Aurie.

„Ein großes Thema.“ antwortete Noah und tat so, als würde er durchs Wasser plantschen.

„Naja.“ sagte Aurie. „Wenn ich mitbekomme, was in den Nachrichten so läuft, dann ist das im Grunde genommen das gleiche, was bei uns in der Klasse passiert, nur auf einer viel größeren Ebene.“

„Das hast Du vollkommen richtig beobachtet. Das Muster ist das gleiche.“ bestätigte Noah.

„Aber das ist doch Wahnsinn!“ rief Aurie. „Es wäre doch so leicht, das zu ändern.“

„Ist es das?“ fragte Noah.

Aurie stutzte. „Ist es das nicht?“ fragte sie.

 

„Letzte Woche, als Du Streit mit Lisa hattest, weil sie mit jemand anderem spielen wollte und Du nicht mitspielen durftest – war es da leicht für Dich, friedvoll zu bleiben?“ Noah sah Aurie tief in die Augen.

Aurie senkte den Blick. „Nein.“ sagte sie.

Aurie erinnerte sich ungern an diesen Tag. Sie war so wütend geworden, dass sie erst „versehentlich“ Lisas Pausenbrotdose runtergeworfen hatte. Als dann jemand anderes über Lisa gelästert hatte und Aurie den Floh ins Ohr gesetzt hatte, dass Lisa sie fallen lassen würde und keine gute Freundin sei, war sie nicht für Lisa eingestanden und hatte sie nicht verteidigt. Stattdessen hatte sie plötzlich nur noch negative Dinge an Lisa gesehen und war mit in das Getuschel eingestiegen. Mit Lisa hatte sie den ganzen Tag kein einziges Wort mehr gesprochen. Als sie am Nachmittag nach Hause gekommen war und vor ihrer Mama über Lisa geschimpft hatte, hatte diese sie zu sich genommen und sie gefragt, was sie in diesem Moment gefühlt habe. Zunächst wollte Aurie nicht darauf eingehen und hatte weiter über Lisa geschimpft. Aber ihre Mutter hatte nicht lockergelassen. Bis Aurie für sich erkannt hatte, dass sie zutiefst traurig und verletzt war. Ihre Mutter hatte sie gefragt, ob ihr das das Recht geben würde, jemand anderen zu verletzen. Und Aurie hatte sich beschämt eingestehen müssen, dass ihre Mutter Recht hatte: sie hatte zu Unrecht gehandelt. Ihre Gefühle waren in Ordnung, aber nicht, wie sie damit umgegangen war. Sie hatte sich selbst nicht als gute Freundin verhalten. Und es war ihr so schwergefallen, dann zu Lisa zu gehen und sich zu entschuldigen. Sie musste sich natürlich auch von Lisa ihren Ärger darüber anzuhören, wie sie reagiert hatte. Am Ende konnten sie sich aussprechen und wieder vertragen. Aber Aurie hatte ein sehr schlechtes Gewissen, weil sie sich so gegenüber Lisa verhalten hatte.

 

„Ok, es ist nicht leicht.“ gestand Aurie. „Vor allem dann nicht, wenn man sich unfair behandelt fühlt.“

„Und jetzt hast Du verstanden, warum Unfriede auf der Erde entsteht. Irgendjemand fühlt sich unfair behandelt und reagiert genauso unfair darauf. Reiz – Reaktion. Kein Nachdenken darüber, kein bewusstes Handeln.“ sagte Noah. „Frieden will aber täglich gelebt werden – es ist nichts, was einfach geschieht. Es ist mehr, als nur Glück zu haben, gerade am „richtigen“ Ort oder mit den „richtigen“ Menschen zu sein. Frieden bedeutet, Verantwortung für sein eigenes Handeln zu übernehmen. Nicht nur für die guten Taten, sondern auch für die Fehler und die Teile von einem, die man nicht so gerne mag.“ Noah blickte Aurie erneut tief in die Augen.

„Meinst Du damit den Teil von mir, der so beleidigt reagiert hat?“ fragte Aurie kleinlaut.

Noah nickte.

Aurie seufzte.

„Frieden bedeutet auch, im Miteinander mitfühlend mit sich selbst und den anderen zu sein. Deshalb habe ich Dir auch die Metta-Meditation1 beigebracht. Wenn Du mitfühlender mit Dir selbst bist, kannst Du auch mitfühlender mit anderen sein. Mitgefühl und Liebe sind die Quelle von innerem und äußerem Frieden.“ fuhr Noah fort.

Das hatte ihr Noah bei ihrem letzten Treffen schon erzählt, Aurie erinnerte sich.

„Wärst Du mitfühlend mit Dir selbst gewesen und hättest in Dich gehört, was Dich so wütend macht in diesem Moment – wie hättest Du reagiert?“ fragte Noah sie.

Aurie dachte kurz nach. „Wahrscheinlich hätte ich mich allein in eine Ecke gesetzt, um meiner Traurigkeit Raum zu geben. Und nach einer Weile hätte ich mir jemand anderen zum Spielen gesucht. Und später hätte ich Lisa gesagt, dass ich es blöd finde, wenn sie mich nicht mitspielen lässt, weil ich mich ausgeschlossen fühle.“ Aurie seufzte erneut. Sie erkannte, dass es nicht hilfreich gewesen war, aus der Wut heraus zu reagieren.

„Genau, Aurie. Wenn Du aus einer Emotion heraus reagierst und handelst, ist es selten zum Wohle aller, weil Du dann keine bewusste Entscheidung treffen kannst. Diese beiden Aspekte sind aber wichtig für ein friedvolles Miteinander. Das Nachspüren in sich, um herauszufinden, was Dich bewegt, das Hinterfragen, was Du brauchst und daraus eine bewusste Entscheidung zu treffen und zum Wohle aller zu Handeln sind Voraussetzung dafür.“ erklärte Noah weiter. „Die Verantwortung, in sich und in seinem direkten Umfeld Frieden zu schaffen und friedvoll zu handeln liegt bei jedem einzelnen Menschen.“

 

„Gibt es eine Möglichkeit, Noah, dass man einen Fehler wieder ausgleichen kann, wenn man nicht friedvoll gehandelt hat?“ fragte Aurie.

„Eine wichtige Sache hast Du schon gemacht, Aurie. Du hast Dich bei Lisa für Dein Handeln entschuldigt. Fehler passieren. Dann dafür Verantwortung zu übernehmen, auch wenn es unangenehm ist, ist der wichtigste Schritt. Und ich habe Dir schon eine Übung dazu beigebracht, das Ho’oponopono2, erinnerst Du Dich?“ fragte Noah.

Aurie nickte.

„Dieses alte hawaiianische Vergebungsritual kannst Du immer machen, wenn Du selbst einen Fehler gemacht hast oder wenn Du Unrecht empfindest, auch in Deinem Umfeld. Es schafft Freiheit und Frieden und hilft, Dein Handeln zu korrigieren und Verantwortung zu übernehmen. Wenn Du es für andere machst, kannst Du sie damit auf der inneren Ebene unterstützen. Denk daran, alles ist miteinander verbunden.“ Noah schwieg und blickte Aurie gütig an.

Aurie dachte über das nach, was Noah ihr gesagt hatte.

 

„Ich möchte Dir heute noch etwas anderes zeigen, Aurie. Ich möchte Dir zeigen, wie Du selbst zu einem Symbol des Friedens werden kannst.“ sprach Noah nach einer Weile weiter.

Aurie nahm ihre Füße aus dem Wasser und setzte sich aufrecht in den Schneidersitz und blickte Noah an. Nun war sie gespannt.

„Ich zeige Dir eine Meditation, die Du machen kannst, um den Frieden auf der Erde und in Dir selbst auszudehnen. Schließ Deine Augen.“ forderte Noah sie auf.

Aurie schloss die Augen und fokussierte sich auf ihren Atem. Sie liebte es, wenn Noah ihr eine neue Übung beibrachte.

 

„Folge Deinem Atem.

Beobachte den Fluss des Lebens, wie er in Dich hineinströmt, und jede einzelne Zelle mit Energie füllt.

Folge diesem Fluss und spüre, wie er alles, was in Deinem Körper nicht mehr gebraucht wird, das Alte, aus Dir hinausleitet, zurück in die Hände der Ewigkeit, der Schöpfung, aus der alles Leben entsteht.

Mit jedem neuen Atemzug strömt das Leben, die Energie wieder in Dich hinein. Atemzug für Atemzug, folge diesem Fluss in seiner Gleichmäßigkeit.

Atemzug für Atemzug, folge diesem Fluss des Lebens, an diesen Punkt in Dir, wo Stille ist, unberührt von all dem, was im Außen geschieht.

Dort strahlt die große Ruhe in Dir, die Dich trägt, in der Du verankert bist.

Atemzug für Atemzug, lass Dich dort nieder.

Die Stille in Dir ist Deine eigene Kathedrale, in der Du in Kontakt mit der Schöpfung, dem Ursprung des Lebens, ganz im Einklang bist.

Der Raum, in dem Licht und Liebe sich in Dir frei entfalten.

Atemzug für Atemzug, nimm diesen Raum, die Stille in Dir wahr.

Dort in Deiner Kathedrale, in der tiefen Ruhe, entzünde ein Licht und halte es in Deinen Händen. Lass den Blick auf der Flamme ruhen und nimm den tiefen Frieden in Dir wahr, der sich ausdehnt. Das Licht, das in Dir strahlt und Deine Kathedrale ganz sanft von innen erhellt.

Den Raum mit Licht und sanfter Wärme füllt.

Beobachte, wie dieses Licht friedvoll in Deinen Händen ruht.

Spür den Frieden, die Ruhe, die tiefe Stille, die sich in Dir ausdehnt.

Spür, wie mit jedem Atemzug, dem Fluss des Lebens, sich der Frieden in Dir ausweitet und Deinen ganzen Körper durchströmt.

Sei Dir bewusst, dass Du in diesem Moment ein Symbol des Lichts, des Friedens, des Einklangs mit der Schöpfung, der tiefen Liebe bist.

Öffne Dein Herz und lass dieses tiefe Symbol, Dein Licht in Deinen Händen, in die Welt strahlen.

Dass es andere anstößt, dass sich der Frieden weiterträgt, dass das Licht in der Welt Raum findet.

Du bist in diesem Moment ein Symbol des Friedens, mit jedem Atemzug, Ausdruck des Lebens, der Liebe, die alles verbindet.“

 

Nachdem Noah geendet hatte, lies Aurie ihre Augen weiterhin geschlossen. Sie war tief berührt. In ihr war es ganz still und sie spürte, wie ihr Licht aus ihrem Herzen in die Welt strahlte. Sie saß ganz still da, bis sie irgendwann die Augen langsam wieder öffnete. Sie blickte Noah an, der sie still anlächelte.

„Du bist wunderschön, wenn Du Dein Licht in die Welt aussendest.“ sagte er sanft. „Bleib in Deiner Stille. Sei Dir bewusst, dass Du diesen Frieden, den Du jetzt in Dir spürst, immer in Dir trägst. Du kannst ihn jederzeit in Deinem Bewusstsein wachsen lassen, wenn Du innehältst. Und Du kannst ihn jederzeit in die Welt hinausschicken.“ Noah stand langsam auf und Aurie wusste, er würde gleich wieder verschwinden.

„Noah.“ sagte sie und er hielt inne. „Wenn ich Dich jetzt umarmen könnte, dann würde ich das tun.“

Noah lächelte sie an, ging langsam wieder um den Teich herum und verschwand.

Aurie war so berührt von dieser Meditation, dass sie noch lange am Teich sitzen blieb, bevor sie wieder zurück ins Haus ging. Sie suchte eine Kerze und stellte sie in eine Laterne. Die wollte sie heute Nacht brennen lassen, damit sich das Licht und der Frieden weiter hinaus in die Welt tragen konnte.


1 Salzberg, Sh. (2003). Metta Meditation - Buddhas revolutionärer Weg zum Glück. Geborgen im Sein. Freiburg: Arbor.

2 Duprée, U. E. (2021). Ho’oponopono. Das hawaiianische Vergebungsritual. 38. Auflage. Darmstadt: Schirner Verlag.


© Sara Hiebl

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