Aurie und ihre Vision
Aurie half gerade ihrer Großmutter in der Küche. Das machte sie richtig gerne. Sie sangen gemeinsam bei der Arbeit und Aurie genoss es immer wieder, zu sehen, mit wie viel Liebe ihre Großmutter mit den Lebensmitteln umging.
Da spürte Aurie Noah plötzlich ganz nah bei sich und hatte den dringenden Impuls, zu ihrem Apfelbaum zu gehen. Das erstaunte sie. Noah hatte sie noch nie direkt zu sich „gerufen“. Sie legte ihren Apfelschäler bei Seite und wischte sich die Hände ab. Ihre Großmutter lächelte gutmütig, als Aurie ihr sagte, sie müsse dringend in den Garten gehen. Sie wusste, wie wichtig dieser Platz für ihre Enkelin war.
Aurie sprang fröhlich in den Garten, sie konnte es kaum erwarten, Noah gleich zu sehen. Sie ließ sich unter dem Apfelbaum nieder und es dauerte nicht lange, da tauchte Noah vor ihr auf. Er grinste sie an.
„Du hast gut geübt, meine Stimme in Dir zu hören, Aurie.“
Sie lächelte glücklich. Auch wenn Noah ihr heute nichts erzählen würde – alleine sein gelb-orangenes Strahlen und seine tiefe Ruhe, die sich auf sie ausdehnte, genügten ihr schon.
„Erzähl mir, Aurie, was hat sich verändert, seitdem Du bewusst auf Deine Gedanken achtest?“ fragte sie Noah.
Aurie dachte kurz nach. „Ich merke, dass ich weniger traurig bin. Meine Gedanken sind irgendwie leichter und drehen sich nicht so oft im Kreis. … Und es gelingt mir jetzt gut, wenn ich merke, dass sich negative, schwere Gedanken in meinen Kopf geschlichen haben, ein schönes Bild zu finden und positive Gedanken hinterher zu schicken.“ Aurie schwieg kurz. „Jetzt wo Du mich fragst: mir fällt gerade auf, dass es mir in den letzten Wochen leichter gefallen ist, eine Lösung zu finden, wenn etwas schwierig für mich war. Ich habe mir selber weniger Stress gemacht. Und ich merke, dass ich viele wertvolle Begegnungen mit anderen habe. Sogar mit Paul!“
„Erzähl mir davon.“ forderte sie Noah auf.
„Naja. Ich habe wirklich geübt, ihm bewusst gute Gedanken zu schicken und habe auch Julia und Sandra davon erzählt. Wir haben einmal eine ganze Pause zusammengesessen und versucht, den lachenden, tollen Paul in unseren Gedanken festzuhalten.“
„Und, was hat das verändert?“ wollte Noah wissen.
„An dem Tag gab es wesentlich weniger Ärger mit ihm. Das war erstaunlich. Es ist zwar immer noch nicht leicht mit ihm in der Klasse, aber ich kann Paul gegenüber jetzt viel klarer sagen, wenn mich etwas an seinem Verhalten stört. Ich komme besser mit ihm klar. Wir lachen sogar manchmal zusammen und letztens hat er mir die Hälfte von seinem Pausenbrot angeboten. Ich ärgere mich nicht mehr die ganze Zeit über ihn, nur weil er da ist. Damit geht es mir selbst auch viel besser.“
Noah nickte zufrieden. „Sehr gut. Mach weiter damit, Aurie. Sei ganz bewusst mit Deinen Gedanken.“
Noah schwieg eine Weile, während Aurie ihn einfach nur ansah und sein Strahlen beobachtete.
„Aurie, kannst Du Dich an Deine Vision erinnern, warum Du hier auf der Erde bist und was für einen Beitrag Du hier leisten möchtest?“ fragte Noah sie ruhig.
Aurie sah ihn überrascht an. „Das klingt, als hätte ich selbst entschieden, dass ich hier bin und was ich hier auf der Erde tun möchte.“
„So ist es, Aurie. Jedes Kind entscheidet sich selbst dafür, hier zu sein. Und jedes Kind hat eine Vision davon, warum es auf die Erde kommt und was es auf dort tun möchte. Allerdings vergessen die Kinder das meistens wieder. Und wenn sie sich noch daran erinnern, verlieren die meisten den Glauben daran, dass es möglich ist. Auf der Erde spricht einfach oft noch so viel dagegen. Die Erwachsenen können die Kinder nicht an ihre Vision erinnern und darin bestärken, da sie es selbst vergessen haben.“
Das leuchtete Aurie ein. Sie hatte ja inzwischen so viel von Noah gelernt. Keiner, den sie kannte, konnte ihr das bislang beibringen. Es war eher umgekehrt. Die Leute lernten diese Dinge jetzt von ihr.
„Jetzt ist es aber an der Zeit, Aurie, dass sich jedes Kind wieder an seine Vision erinnert. Es ist an der Zeit, den Glauben an Deine Vision und an Deine Kraft wieder zu stärken. Es ist an der Zeit, dass Du Dich an Deine Fähigkeiten erinnerst, um sie in die Welt zu bringen.“ sagte Noah.
„Du hattest das gesagt.“ erinnerte sich Aurie. „Wir werden uns über meinen Wert für die Welt unterhalten und darüber, dass ich aus einem bestimmten Grund hier bin.“
Noah grinste sie an. „Ja, das werden wir jetzt tun.“
„Aber wie kann ich mich denn an meine Vision erinnern?“ wollte Aurie wissen. „Ich wusste ja bis gerade eben noch nicht mal mehr, dass ich mich selbst dafür entschieden habe, hier zu sein.“
„Ich werde Dir dabei helfen.“ versprach Noah.
„Der erste Schritt ist: Du musst es wirklich wollen, dass Du Dich an Deine Vision erinnerst. Es kann sein, dass Du ein bisschen traurig dabei wirst, weil Du sie vielleicht bislang noch nicht umsetzen konntest. Du musst Dich trotzdem bewusst erinnern wollen.“
Aurie nickte. Jetzt war sie neugierig. Natürlich wollte sie es wissen!
„Der zweite Schritt ist: Bitte Deinen Schutzengel, dass er Dich dabei unterstützt. Bitte ihn, dass er hinter Dich tritt, seine Flügel um Dich legt und Dich mit all seiner Liebe dabei unterstützt, Dich zu erinnern.“
Noah sah sie gutmütig an.
Aurie verstand. Sie musste ihn wirklich darum bitten, damit er ihr helfen konnte.
Sie schloss die Augen und bat Noah aus tiefstem Herzen, dass er hinter sie treten und seine Flügel um sie legen würde. Sie bat innig darum, dass er ihr mit all seiner Liebe dabei helfen würde, sich an ihre Vision zu erinnern.
Da spürte Aurie plötzlich, wie sich eine wohlige Wärme in ihrem ganzen Körper ausdehnte. Sie fühlte sich ganz eng und liebevoll gehalten, ihr Herz war voller Freude. So intensiv hatte sie noch nie die Umarmung ihres Schutzengels gespürt!
„Dein Schutzengel hilft Dir, in Kontakt mit Deiner Seele, mit Deinem tiefsten inneren Wissen zu sein.“ hörte sie Noah sagen. „Dort bist Du ganz verbunden mit der tiefen Liebe, die alle Lebewesen miteinander verbindet, die alles Leben ermöglicht.
Formuliere nochmal den Wunsch, dass Du Dich an Deine Vision erinnern möchtest, warum Du hier bist und was Du auf der Erde tun möchtest.“
Aurie wollte wirklich wissen, was ihre Vision war, warum sie auf der Erde war und was sie hier tun wollte. Sie war neugierig darauf und bat innig darum, sich daran zu erinnern.
„Jetzt bitte darum, dass Dein Schutzengel Dich an den Tag zurückführt, an dem Du noch ganz im Kontakt mit Deinem tiefsten inneren Wissen, mit Deiner Seele warst. An dem Du noch frei von äußeren Einflüssen gewesen bist, an dem der Glaube an Deine Vision und Kraft stark war, an dem Du Dir Deiner Fähigkeiten voll bewusst warst. Schau innerlich auf Deine Füße und Du wirst erkennen, wie alt Du damals ungefähr warst.“
Aurie war erstaunt. Sie hatte ein Bild von sich im Kopf, als sie ungefähr drei Jahre alt war und hier im Garten ihrer Großmutter unter dem Apfelbaum in der Sonne spielte.
„Beobachte Dich in diesem Alter.“ leitete sie Noah weiter an. „Beobachte, was Du tust. Beobachte aber vor allem, wie es sich anfühlt in Dir. Was spürst Du? Welche Fähigkeiten oder Stärken sind Dir bewusst? Was zeigst Du der Welt?“
Aurie spürte, dass sie ganz voller Freude war, neugierig auf das, was es zu entdecken gab. Sie versuchte jede Kleinigkeit wahrzunehmen: Wie die Bienen summten und sich zu den Blumen bewegten. Wie das Gras ihre nackten Füße kitzelte. Sie bemerkte aber vor allem, dass sie sich wahnsinnig stark und selbstsicher fühlte. Völlig im Vertrauen auf sich selbst und – sie staunte – auf ihren Schutzengel, der sie begleitete. Sie konnte Noah sehen! Das hatte sie völlig vergessen. Er hatte also Recht gehabt – sie hatte irgendwann aufgehört an seine Existenz zu glauben, weil die anderen keine Engel sehen konnten.
„Konzentriere Dich weiter auf das, was Du wahrnimmst und was Du in Dir beobachtest.“ hielt Noah sie an.
Aurie merkte, dass sie mit Leichtigkeit erkennen konnte, wie die Menschen um sie herum sich fühlten und sie genau wusste, was zu tun war. Es fiel ihr leicht, auf sie zu reagieren. Sie bemerkte auch ihr eigenes inneres Strahlen, das von einem wunderbaren Lächeln begleitet war. Selbst ganz düstere Menschen reagierten darauf. Es regte irgendetwas in ihnen an. Aurie konnte es nicht beschreiben. Sie beobachtete nur, dass die Menschen zum Beispiel weniger grimmig sein konnten, wenn sie ihrem Strahlen begegneten. Das gefiel Aurie.
„Und jetzt stell Dir folgende Fragen zu Deiner Vision.“ hörte sie Noah sagen.
„Was möchte ich auf der Erde lernen?
Was möchte ich anderen Menschen beibringen?
Welche Fähigkeiten bringe ich mit, die allen Menschen behilflich sein können?
Was möchte ich dadurch auf der Erde bewirken?
Was braucht die Welt von mir?
Lass die Antworten in Dir entstehen, Aurie. Lausche ihnen, wie dem Rauschen des Meeres.
Lass es zu, dass Du Dich an Deine Vision erinnerst. Jetzt ist die Zeit dafür. Jetzt wird die Hilfe da sein, damit Du Deiner Vision folgen kannst, wenn Du das möchtest. Du hast die Kraft und die Möglichkeiten dazu. Vertrau auf die tiefe Liebe in Dir.“ sagte Noah sanft.
Aurie spürte ihr Herz erstrahlen, wie eine Sonne. Ihr war, als hätte Noah seine Hand darauf gelegt, um sie zu stärken.
Und Aurie begann langsam, sich zu erinnern. Es war wie eine Geschichte, die sie vor langer Zeit gehört hatte, die ihr Stück für Stück wieder einfiel.
„Mein Strahlen soll jeden Menschen in seinem Herzen berühren und an die Liebe erinnern, die uns alle miteinander verbindet. Die Menschen sollen dadurch eine Chance haben, sich wieder ihrem eigenen Licht und ihren Fähigkeiten zuzuwenden. Je mehr Menschen sich an ihre Fähigkeiten erinnern und sich entscheiden, diese bewusst zum Wohle aller Menschen einzusetzen, desto mehr Harmonie und Zufriedenheit wird auf der Erde entstehen.“ Aurie bekam eine Gänsehaut.
„Ich möchte gerne die Gesetze hier auf der Erde kennenlernen und verstehen, wie sie funktioniert. Nur dann kann ich auch eine Veränderung bewirken und den Menschen helfen.“ Aurie rannen Tränen die Wange herunter und sie spürte die tiefe Liebe in sich, die von Noah ausging, der immer noch seine Flügel um sie gelegt hatte.
„Wenn ich meine Stärke und Selbstsicherheit in die Welt bringe, dann kann ich alle Herausforderungen meistern und die Leute werden sehen, welche Möglichkeiten sich ergeben, wenn man im Vertrauen ist.“
Aurie schwieg. Sie war tief berührt von diesen Eindrücken.
„Und das habe ich vergessen…“ murmelte sie. „Ich weiß aber gar nicht, wie das möglich sein soll, Noah. Die Menschen sind doch noch so schwer und oft so wenig offen.“ Aurie war traurig.
„Es wird möglich sein, Aurie. Vertrau mir. Aber das ist erst der nächste Schritt. Jetzt geht es erst einmal darum, dass Deine Vision in Dir wieder lebendig wird und Du wieder an sie glaubst. Sie muss ein starkes Bild in Dir werden. Denk an die Kraft Deiner Gedanken. Erst, wenn das Ziel klar ist und Du wirklich dorthin willst, kannst Du den Weg dorthin finden. Und der Wille muss sehr stark sein, damit Du auch Stürme überstehst.“ Noah lächelte gutmütig.
„Jetzt bedanke Dich bei Deinem Schutzengel, dass er Dir geholfen hat, Dich zu erinnern. Verankere die Vision ganz tief in Deinem Herzen, wie einen kostbaren Schatz.“ Noah öffnete die Flügel und tauchte wieder vor Aurie auf. Sie fühlte eine große Wärme und Ruhe durch sich strömen. Ihr Herz war voller Dankbarkeit dafür, dass sie sich an ihre Vision erinnern konnte.
„Wie kannst Du Deine Vision jetzt bildlich machen, Aurie, damit Du sie nicht mehr vergisst und Dich jeden Tag daran erinnerst?“ fragte sie Noah.
Aurie überlegte.
„Ich werde mir ein großes Blatt Papier nehmen und ein Bild davon malen. Und ich frage Großmutter, ob sie ein Foto von mir mit 3 Jahren hat, auf dem man mein wunderbares Strahlen sieht, das jeden berührt. Das klebe ich mit darauf. Und ich bitte Dich um eine Feder.“ Aurie grinste breit und Noah lachte. „Die klebe ich auch dazu, wenn ich sie gefunden habe. Als Erinnerung, dass Du immer bei mir bist und mir helfen wirst, meine Vision zu leben.“
„Das ist eine gute Idee, Aurie! Zeig mir Dein Bild, wenn es fertig ist. Vor allem ist aber wichtig, Aurie, dass Du jeden Tag dieses Bild anschaust, die Kraft Deiner Vision spürst, und Dich wieder mit ihr verbindest. Erst, wenn Deine Vision wieder ganz lebendig in Dir ist, sind die nächsten Schritte möglich.“
Noah erhob sich und blickte Aurie gütig an. „Beim nächsten Mal unterhalten wir uns weiter darüber, Aurie. Jetzt lauf nach drinnen und mach Dich an Dein Bild.“
Sie stand auf und ging zum Haus. Als sie zurück blickte stand Noah noch immer beim Apfelbaum. Im nächsten Moment war er verschwunden.
Aurie ging hinein und begann damit, das Bild ihrer Vision zu malen.
© Sara Hiebl