Aurie und der Engel

 

 

Aurie stolperte in den Garten, die Tränen liefen ihr über die Wangen. Sie rannte zu ihrem Apfelbaum, der ganz hinten im Garten ihrer Großmutter stand, und ließ sich dort an seinem Stamm sinken. Sie vergrub ihr Gesicht in ihren Händen und schluchzte tief.

Hierher kam sie immer, wenn sie der Welt nicht mehr gewachsen war, wenn sie sich überfordert fühlte und das Leid und die Schwere auf der Erde nicht mehr ertragen konnte.

 

Sie war gerade aus der Schule gekommen. Die Kinder dort begannen den Krieg der Erwachsenen zu übernehmen. Wer war dafür, wer dagegen? Plötzlich war dort Hass und Abwehr zu spüren, wo sie gestern noch in Einheit friedlich miteinander gespielt hatten. Es gab kein Verständnis mehr, kein dem anderen zuhören, kein Versuch, den anderen als wertvollen Menschen wahrzunehmen. Als Aurie den Mut aufgebracht hatte, sich für ein Miteinander einzusetzen, schlug ihr der Hass unvermittelt entgegen. Sie müsse sich für eine Seite entscheiden. Warum? Wenn sie doch beide verstehen konnte. Von Seiten der Lehrer gab es keine Unterstützung zur Lösung dieses Streits. Sie verstärkten durch ihre Haltung und Denkweise die Kluft, die zwischen den Kindern entstand. Das war zu viel für Aurie. Sie war tief traurig und es zerriss ihr schier das Herz vor Kummer. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass dieser Krieg jemals wieder enden würde. Der Schmerz und die Schwere hatten in letzter Zeit immer mehr zugenommen. Die Sehnsucht in ihrem Herzen nach Ruhe und Frieden, nach Liebe und Gemeinschaft war so groß. Sie betete innig, dass sie zurückkehren könnte an den Ort, an dem einfach nur Stille herrschte, an dem alles in Liebe getragen war. Sie wünschte sich so sehr, gehalten zu sein, tief geborgen und geschützt vor diesem Schmerz.

 

Als sie mit tränenverschleierten Augen zwischen ihren Fingern hindurchsah, da konnte sie plötzlich eine Gestalt vor sich wahrnehmen. Ganz verschwommen nur. Es dauerte, bis sie ihren Blick schärfen und die Tränen zur Seite wischen konnte. Sie staunte. Vor ihr saß ein – ja, was saß da? Es sah aus wie ein Mensch, ein junger Mann, war aber ganz in Licht gehüllt und strahlte tiefe Liebe aus. Die Gestalt blickte sie gütig an. Sein Gewand war aus leuchtendem und fließendem Gelb-Orange. Und sie konnte sogar Flügel hinter ihm sehen! War das – ein Engel? Sie starrte ihn ungläubig an.

 

„Hallo Aurie.“ sagte er ruhig.

„H…Hallo.“ brachte Aurie gerade so voll Staunen heraus.

Dann starrte sie den Engel weiter an und er lächelte gutmütig zurück. Aurie war gebannt von seinem Strahlen und ein tiefer Friede breitete sich in ihr aus, je länger sie ihn betrachtete. Irgendwann fand sie den Mut, ihn zu fragen: „Wo kommst Du denn jetzt her?“

„Du hast mich gerufen.“ antwortete er ruhig.

„Ich?!“ fragte Aurie ungläubig? „Ich habe hier gesessen und geheult. Ich habe sicherlich niemanden gerufen.“

„Doch. Du hast intensiv darum gebeten, dass Du gehalten und geborgen wirst und geschützt vor diesem tiefen Schmerz.“

Aurie war sprachlos. „Aber das habe ich doch nicht laut gesagt!“

„Ja, das stimmt. Doch Dein Herz hat gesprochen, meine Liebe. Und das kann ich hören.“

Das musste Aurie erstmal verdauen. Sie hatte noch nie erlebt, dass jemand ihre Herzenssprache hören konnte.     

„Bist Du ein Engel?“ fragte sie irgendwann neugierig. Sie musste ja schließlich herausfinden, mit wem sie sich da eigentlich unterhielt.

„Ja. Dein Schutzengel.“

„Mein Schutzengel?“ Auries Großmutter betete mit ihr jeden Abend, dass ihr Schutzengel sie nachts begleiten und behüten möge. Mit diesem Gebet fühlte sich Aurie sehr wohl vor dem Einschlafen, denn sie glaubte fest daran, dass sie dann auch nachts behütet wurde. Dass ihr Schutzengel jedoch tatsächlich existierte und auch noch vor ihr auftauchte, konnte sie gerade nur schwer glauben.

„Deine Großmutter und Du, ihr habt jeden Abend mit mir gesprochen, seitdem Du auf der Welt bist. Ich bin Dir nie von der Seite gewichen.“

„Ich habe Dich aber noch nie gesehen.“ meinte Aurie.

„Doch, als Baby konntest Du mich sehen. Daran kannst Du Dich wahrscheinlich nur nicht mehr erinnern. Da niemand um Dich herum Engel sehen kann, hast Du irgendwann weniger an meine Existenz geglaubt und deshalb konntest Du mich nicht mehr sehen. Lernen auf der Erde funktioniert so: wir orientieren uns an den anderen.“

„Sieht meine Großmutter Dich?“ wollte Aurie wissen.

„Nein. Aber aus der tiefen Liebe zu Dir heraus hat sie begonnen, mit Dir für Deinen Schutz zu beten und das hat ihren und Deinen Glauben an mich gestärkt.“

„Und wie heißt Du?“ Aurie runzelte die Stirn. Haben Engel überhaupt einen Namen? Sie wollte sich nämlich gerne weiter mit ihm unterhalten, denn sie war neugierig. Dafür musste sie ja wohl seinen Namen wissen.

„Noah.“

„Ist das ein Name für einen Engel?“

Noah lachte. „Das ist der Name, mit dem Du mich rufen kannst.“

 

Aurie sah Noah mit schräg gelegtem Kopf an. „Wenn Du sagst, dass Du immer bei mir warst, wieso kann ich Dich dann erst jetzt sehen?

„Weil Du erst heute nach mir gerufen hast.“

„Heißt, wenn ich Dich früher „gerufen“ hätte, wärst Du früher aufgetaucht?“

„Ja, Aurie. Denn heute war es Dein tiefer Wunsch, meine Geborgenheit und meinen Schutz zu spüren. Ich kann nur für Dich da sein und Dir helfen, wenn Du darum bittest.“

„Aber wieso? Wenn Du mein Schutzengel bist, dann MUSST Du doch auch für mich da sein, oder?“ Das erzählte ihr ihre Großmutter immer.

„Ich bin zwar immer bei Dir, aber ich kann nie gegen Deinen Willen handeln. Und bislang war Dein Wunsch, mit mir in Kontakt zu sein, nicht tief in Dir vorhanden. Erst heute hast Du ihn intensiv ganz aus Deinem Herzen formuliert.“

„Du hast gesagt, meine Großmutter kann Dich nicht sehen. Wieso kann ich Dich sehen? Mir hat noch nie jemand erzählt, er könne einen Engel sehen.“

„Du hast die Gabe dazu, Aurie. Du glaubst daran, dass es mich gibt, Du trittst mir auch ganz offen und voller Liebe und Vertrauen entgegen. Und Du sprichst aus dem Herzen, Du folgst einfach Deinem Gefühl. Du kannst mich sehen, weil es Deinem tiefen Wunsch entspricht. Und noch ein ganz wichtiger Punkt dabei: Du glaubst nicht die Vorstellung, die ein großer Teil der Menschheit teilt, dass es mich nicht gibt. Außerdem bist Du offen dafür, neue Erfahrungen zu sammeln.“

 

„Noah, ich merke, dass mich jetzt ein tiefer Frieden erfüllt und der Schmerz von vorhin verschwindet, je länger ich Dich anschaue. Dein Strahlen und Dein liebevoller Blick dringen ganz tief in mein Herz ein.“

„Ja, indem Du mich anschaust, erinnerst Du Dich daran, dass Du nicht der Schmerz der Welt bist. Du erinnerst Dich an die Liebe, die Du bist und die aus Deinem Herzen strahlt. Und Du erinnerst Dich an die Einheit, an die Gemeinschaft, in der alles mit allem verbunden ist.“

„Das hilft mir gerade sehr. Ich dachte vorhin, ich möchte lieber sterben, um all das nicht mehr ertragen zu müssen. Ich mag keinen Krieg führen. Ich will niemanden hassen. Aber ich habe das Gefühl, dass meine Versuche, dem entgegenzuwirken, nichts bringen. Und ich halte es kaum aus, wenn ich diesen Hass und diese Schwere spüren muss.“

„Ich kann Deinen Schmerz verstehen. Damit der Hass die Liebe in Dir überschatten kann, so wie es vorhin passiert ist, als Du so geweint hast, musst Du es allerdings zulassen.“

„Das kapiere ich nicht.“ unterbrach Aurie ihn. „Ich hab doch nicht darum gebeten, dass ich gehasst werde.“

„Das ist richtig. Du kannst nicht das Verhalten der anderen ändern. Es ist ihr freier Wille, so zu handeln, wie sie es wollen. Auch, wenn sie sich nicht zum Wohle aller Menschen verhalten. Es ist ihre Erfahrung, für die sie sich entscheiden. Du kannst allerdings entscheiden, was Du in Dein Herz hineinlässt und was nicht. So, wie Du Dich ja auch entschieden hast, andere nicht hassen zu wollen und ihnen weiter mit Liebe und Offenheit begegnest.“

„Wie soll das gehen?“ wunderte sich Aurie.

 

„Ich zeige Dir eine Übung, Aurie.“ antwortete Noah. „Bevor Du für andere etwas tun kannst, ist es wichtig, dass Du lernst erst Dich selbst und Dein Energiefeld zu schützen. Mit einer leeren Batterie kannst Du auch keine andere leere Batterie aufladen. Wenn Deine Energie leer ist, dann kannst Du auch dem Hass und der Schwere nicht entgegenwirken. Verstehst Du das?“

„Das leuchtet mir ein. Aber wie mache ich das? Ich kann diese Schwere, den Hass und die Angst überall wahrnehmen. Es ist überwältigend! Hier unter meinem Apfelbaum ist einer der wenigen Orte, wo ich Ruhe finden kann.“

„Das ist sehr wichtig, was Du gerade gesagt hast. Es gibt Orte, an denen Du Ruhe finden kannst. An denen eine andere Energie herrscht und Du wieder in Kontakt mit Dir selbst, mit dem Frieden und der Liebe in Dir kommen kannst. Und es ist ganz wichtig, diese Orte regelmäßig aufzusuchen, dort Kraft zu tanken und Dich wirklich zu erholen. So ein Platz in der Natur, wie unter Deinem Apfelbaum, ist dafür sehr gut geeignet. In der Natur gelingt uns das leichter, weil die Natur Liebe ausstrahlt. Und dass ein Platz Dir gut tut, merkst Du immer daran, ob Du dort zur Ruhe kommen kannst und Dich dort wohl fühlst, wieder Energie bekommst. Jeder kann sich solche Plätze suchen. Da können die anderen noch was von Dir lernen, Aurie.“ Noah zwinkerte Aurie verschmitzt zu.

 

Aurie wusste nicht, wie lange der Engel noch bleiben würde und sie wollte vorher unbedingt noch diese Übung lernen.

„Mach die Augen zu, Aurie, und lausche Deinem Atem, um ganz bei Dir zu sein. Jetzt stell Dir vor, dass Du einen großen Pinsel in der Hand hältst. Mit diesem Pinsel kannst Du ein Licht-Ei oder eine Lichtkugel um Dich herum malen. Stell Dir wirklich vor, wie Du das tust. Male ganz bewusst mit jedem Pinselstrich helles Licht um Dich herum. Prüfe, dass Du wirklich ganz von diesem Licht umhüllt bist und keine Lücke geblieben ist. Hast du das geschafft?“

„Ja.“

„Sehr gut! Spüre nun, dass Du in diesem Licht ganz geborgen und geschützt bist. Von außen kann nur alles zu Dir in Dein Herz gelangen, was liebevoll, positiv und zum Wohle aller ist. Alles Negative aber prallt an Deiner Lichthülle ab und kann Dich so im Herzen nicht berühren. Umgekehrt kann auch von Dir nur alles Positive und Liebevolle nach außen in die Welt dringen. Alles, was nicht zum Wohle aller ist, bleibt bei Dir, denn das ist Deine Verantwortung. Spüre jetzt ganz bewusst den Schutz Deiner Lichthülle, wie Du ganz davon umschlossen, sanft getragen und behütet bist.“ [1]

Aurie merkte, wie sie langsam wieder tiefer atmen konnte, je mehr sie sich in ihrem Licht-Ei fokussierte. „Ich habe das Gefühl, dass ich endlich wieder Raum habe und nicht der Hass alles einnimmt.“

„Genau, Aurie. Deinen Raum kann Dir niemand nehmen, außer Du lässt es zu. Nun ist es wichtig, dass Du lernst, Deinen Raum ganz klar zu kennen und abzugrenzen, welche Energie Du in Dein Herz lässt. Das ist der Grundstein für alles Weitere. Übe mehrfach täglich, Dein Licht-Ei zu sehen. Schon morgens im Bett, bevor Du aufstehst, unter der Dusche, im Bus, in der Schule, auf dem Pausenhof, unter Deinem Apfelbaum… Und prüfe immer wieder, ob es da ist und Dich ganz einhüllt. Das ist wie Training beim Sport. Je öfter Du es übst, desto leichter wird es Dir gelingen. Und desto leichter kannst Du es schnell aktivieren, wenn Du verstärkten Schutz brauchst.“

„Das werde ich tun, Noah. Ganz bestimmt. Denn ich möchte nicht weiter schutzlos dem Hass und der Angst ausgeliefert sein.“

Noah lächelte sie an.

 

„Noah, warum lernt man so etwas nicht in der Schule? Das ist doch total wichtig! Wenn alle Kinder das könnten, dann würden wir keinen Krieg gegeneinander führen und könnten weiter freundlich miteinander spielen und Spaß haben, egal, wer welcher Ansicht ist.“

„Weißt Du Aurie, die Lehrer können Dir auch nur das beibringen, was sie selbst schon gelernt haben. Wenn sie die Erfahrung noch nicht gemacht haben, können sie dieses Wissen auch nicht weitergeben. Indem Du jetzt eine neue Erfahrung machst und etwas anderes tust, können andere von Dir lernen. Denn sie werden den Unterschied merken. Dann wird es Leute geben, die danach fragen und mit ihnen kannst Du Dein Wissen teilen.“

„Wieso kann ich es nicht einfach jedem erzählen? Wo es doch so wichtig ist!“ fragte Aurie ungeduldig.

„Das würde nichts nützen, da jeder Mensch bereit dazu sein muss, etwas Neues zu lernen. Du kannst sie nicht dazu zwingen. Indem Du es aber einfach tust, machst Du die Menschen, die lernen wollen, neugierig. So ist es leichter, etwas Neues zu lernen.“

Aurie lachte. „Ja, das kenne ich aus der Schule. Wenn ich neugierig bin, dann ist es viel leichter zu lernen. Wenn ich keine Lust habe, dann geht es nicht.“

Noah blickte Aurie gutmütig an. „Hast Du das Gefühl, Aurie, dass Du das jetzt gut in der Schule üben kannst? Wie gesagt, sei Dir bewusst, dass Du nie die anderen ändern kannst. Aber alles, was passiert, ist eine Chance für Dich, etwas Neues zu lernen. Jetzt kannst Du lernen, wie Du darauf reagierst und Du hast ein intensives Trainingsfeld, in dem Du lernen kannst, Dein Energiefeld zu schützen.“

„Ja, jetzt fühle ich mich besser vorbereitet, wenn ich morgen in die Schule zurück gehe. Danke, Noah.“

 

„Gut, Aurie. Dann sind wir für heute fertig mit unserem Gespräch.“ Der Engel stand auf.

„Halt!“ rief Aurie. „Wie kann ich Dich wieder treffen?“

„Wie hast Du mich denn heute getroffen?“ fragte Noah schmunzelnd zurück.

„Ich hatte einen ganz tiefen Wunsch in meinem Herzen.“

„Ganz genau. Und genau so wird es wieder funktionieren. Sei Dir bewusst, ich bin immer bei Dir, auch, wenn Du mich nicht sehen kannst. Und ich kann die Sprache Deines Herzens hören.“

„Ich möchte so gerne noch wissen, wie man es schafft, mit seinem Schutzengel ins Gespräch zu kommen, auch wenn man ihn nicht sehen kann.“

„Das werde ich Dir gerne beantworten, liebe Aurie. Aber nicht mehr heute. Das ist zu viel auf einmal.“ Noah lächelte gutmütig. „Wir werden uns auch noch darüber unterhalten, was Dein Wert für die Welt ist. Denn Du bist ja aus einem bestimmten Grund hier. Es wäre sehr schade, wenn Dein Licht jetzt von der Erde verschwindet.“

„Ich habe einen Wert für die Welt?“ fragte Aurie erstaunt.

„Absolut! Aber wie gesagt, darüber unterhalten wir uns ein andermal weiter. Jetzt übst Du erstmal, Dein Energiefeld zu schützen. Liebe Aurie, ich danke Dir, für das Gespräch heute.“

 

Noah ging um Aurie herum und verschwand hinter dem Apfelbaum. Aurie konnte ihn nicht mehr sehen, aber sie hatte das Gefühl, das er noch da war. Sie konnte immer noch seinen liebevollen Blick spüren, mit dem er sie angesehen hatte, auch die Wärme und das Wohlbefinden, das sich in ihrem Körper ausgedehnt hatte, blieben bestehen.

Glücklich und tief berührt saß sie unter ihrem Apfelbaum. Das erste Mal seit langem hatte sie das Gefühl, wieder frei atmen zu können. Sie übte noch ein bisschen, sich in ihrem Licht-Ei zu sehen, bevor sie aufstand und gemächlich wieder zum Haus ging.

Sie nahm sich fest vor, das mit dem Licht-Ei intensiv zu üben, auch in der Schule. Sie war gespannt darauf zu sehen, was sich dadurch verändern würde. Vor allem aber, wollte sie sich weiter mit Noah unterhalten und noch mehr lernen.




 
[1] Übung nach Daskalos in Markides, K. C. (2004). Der Magus von Strovolos. Die faszinierende Welt eines spirituellen Heilers. Darmstadt: Schirner
       Verlag.


© Sara Hiebl

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