Aurie und die Schatten

 


Aurie hatte Noah in den letzten Wochen oft gebeten, seine Flügel um sie zu legen. Sie war dankbar, wenn sie diese unendliche Liebe durch sich strömen spürte. Das half ihr, die Angst, die sie bei anderen spürte, besser auszuhalten.

Sie wusste immer noch nicht, was mit ihrer Großmutter los war. Aber in der letzten Zeit hatte sie den Schatten, der über das Herz ihrer Großmutter zog, sehr oft wahrgenommen. Das strengte sie sehr an. Ihr wurde dann selbst ganz schwer ums Herz und sie fühlte sich, als würde sie eine Last erdrücken. Dann wurde sie immer ganz hibbelig, als müsste sie versuchen es abzuschütteln oder irgendwie für Fröhlichkeit sorgen. Dabei fühlte sie sich jedoch gar nicht wohl. Vor allem aber war ihr schleierhaft, warum ihre Großmutter nicht einfach darüber sprechen konnte, sondern alles in Schweigen hüllte. Es fühlte sich an, als wäre es verboten, überhaupt auch nur danach zu fragen. Das machte sie ganz rasend.

 

Aurie saß in eine dicke Jacke gehüllt unter ihrem Apfelbaum und ihre Gedanken kreisten ununterbrochen. Sie schloss die Augen und bat Noah, wieder seine Flügel um sie zu legen. Sie ließ sich tief in diese Liebe sinken, die sie in sich spürte, und seufzte.

Da kam ihr die Frage von Noah wieder in den Sinn: Woher kommt die Angst?

Ja, woher kam die Angst ihrer Großmutter. Das fragte sich Aurie wirklich.

Plötzlich musste sie an ein kleines Mädchen denken, das im Dunkeln durch den Regen irrte und deutlich Angst hatte. Es war vielleicht 5 Jahre alt. Aurie war verwundert.

 

„Das ist Deine Großmutter.“ hörte sie Noah sagen.

Sie schlug die Augen auf und da saß er wieder vor ihr im Gras. Sie lächelte dankbar und genoss es, ihn wieder anzusehen. Tiefer Friede durchströmte sie beim Anblick seines leuchtenden Gewands.

„Sie haben sie bei einem Luftangriff vergessen.“

„Bei einem Luftangriff?“ fragte Aurie.

„Deine Großmutter hat als Kind noch den Krieg miterlebt. Eines Abends, als die Sirenen losgingen, haben sie Deine Großmutter vergessen, als alle in den Keller gerannt sind, um sich in Sicherheit zu bringen. Deine Großmutter ist aufgewacht und es war keiner da. Vor lauter Panik ist sie nach draußen gerannt und umhergeirrt. Irgendwann hat ein Nachbar sie gesehen und zu sich nach drinnen geholt. Das hat Deine Großmutter nie vergessen.“

„Das ist ja furchtbar!“ sagte Aurie. „Da hätte ich aber auch Angst gehabt! Sie hat das nie erzählt.“

„Sie wollte es gerne vergessen. Es ist ja kein schönes Erlebnis gewesen.“ erklärte Noah. „Außerdem will sie Dir keine Angst damit machen.“

„Ist das der Grund, warum meine Großmutter immer so zusammenzuckt, wenn es irgendwo laut knallt, und warum sie an Silvester immer zu Mitternacht im Keller verschwindet?“ fragte Aurie.

Noah nickte.

„Ich habe mich schon gewundert, aber jetzt kann ich das verstehen.“ murmelte Aurie nachdenklich.

„Und warum ist diese Angst jetzt zurückgekehrt?“ wollte Aurie wissen.

„Du hast doch von dem Krieg gehört, der in dem anderen Land ausgebrochen ist, oder?“ fragte Noah.

Aurie nickte traurig.

„Und das hat die Angst in Deiner Großmutter wieder geweckt. Die ganzen alten Erinnerungen sind wieder hochgekommen. Und die alten Ängste sind wieder ganz groß. Das ist der Schatten, den Du auf dem Herzen Deiner Großmutter wahrnimmst.“

 

„Aber das ist doch schon so lange her! Und hier bei uns ist doch gar kein Krieg.“ sagte Aurie, nachdem sie eine Weile über das, was Noah gesagt hatte, nachgedacht hatte.

„Das ist richtig, Aurie. Aber Deine Großmutter hat diesen Schreck nie richtig verarbeitet. Damals war jeder mit seiner eigenen Angst beschäftigt und Deine Großmutter hatte keine Unterstützung dabei. Sie fühlte sich sehr alleine. Und so konnte dieser gewaltige Schreck nie richtig heilen. Ihr Körper hat die Erinnerung noch ganz tief in seinen Zellen gespeichert. Und obwohl gerade gar kein Krieg ist, dort, wo ihr lebt, reichen die Gedanken daran aus, um in ihr wieder die gleichen Reaktionen hervorzurufen.“

„Das ist ja schrecklich!“ Aurie schlug sich die Hände an den Kopf. „Aber jetzt kann ich verstehen, warum ich oft so unruhig war. Ich konnte diese Angst so deutlich spüren, aber ich konnte es nie einordnen!“ seufzte Aurie.

„Du hast eben sehr feine Antennen.“ Noah lächelte sie an. „Das ist eine Chance für Deine Familie.“ sagte Noah.

Aurie war verwundert. „Wie meinst Du das?“

 

„Kinder spüren die alten, ungelösten Schatten der Familien und all ihrer Ahnen. Vor allem dann, wenn sie so feine Antennen haben, wie Du.“ Er zwinkerte ihr zu. „Alle Erfahrungen Deiner Vorfahren sind auch in Deinen Genen, in Deinem Körper, in jeder einzelnen Zelle gespeichert. Sowohl die schönen Erfahrungen und Stärken, die Deine Vorfahren erlebt und entwickelt haben, als auch ihre Schwächen und ungelösten Schatten. Das ist Dein Erbe. Und so, wie Du es schon beschrieben hast, geht es Dir nicht gut, wenn Du die alten Schatten wahrnimmst. Ihre Energie stört Deine innerste Harmonie und Ruhe. Dann bist Du nicht mehr mit Deiner ureigenen Kraft verbunden, Du fühlst Dich getrennt von allem. Das widerspricht der Natur des Menschen. Alles ist mit allem verbunden. Alles, was nicht aufgearbeitet wurde, wird immer und immer wieder auftauchen. Der Schatten will ins Licht und geheilt werden. Das ist das Prinzip des Lebens: es will sich reinigen und das Gleichgewicht wieder herstellen.“[1] Noah machte eine kurze Pause.

„Damit das Neue in die Welt kommen und sich die Welt verändern kann, ist es wichtig, die Schatten aufzulösen. Es ist wichtig, dass Du die Schatten Deiner Vorfahren nicht unbewusst weiterlebst.“ wies Noah sie an.

 

Aurie seufzte. Nein, dass wollte sie wirklich nicht. Sie fand diesen Zustand, mit der Angst ihrer Großmutter konfrontiert zu sein, äußerst anstrengend.

„Du merkst gerade, was die ungelöste Angst Deiner Großmutter mit Dir macht, Aurie. Viele Kinder übernehmen jedoch unbewusst die alten Schatten ihrer Vorfahren. Sie spüren sie, können sich aber nicht vor ihnen schützen. Sie spüren die gleiche Unruhe wie Du, haben aber keine Erklärung dafür. Und irgendwann denken sie, das wäre normal. Das ist es aber nicht.“ erklärte Noah weiter.

„Aber wieso schützen uns denn die Erwachsenen nicht davor?!“ rief Aurie plötzlich verärgert. „Das sind doch ihre Schatten! Wieso muss ich die als Kind aushalten?“

„Schau, Aurie, wären den Erwachsenen ihre Schatten bewusst und hätten sie den Mut, hätten sie die Verantwortung dafür übernommen und sie aufgelöst. Aber vielen Erwachsenen sind die Schatten selbst nicht bewusst, sie haben auch vieles von ihren Vorfahren übernommen. Und sie halten das, was es in ihnen auslöst, für normal. Du weißt jetzt, was Deine Großmutter erlebt hat – und das ist nur ein kleiner Teil. Die meisten wissen nicht, was ihre Vorfahren erlebt haben, weil oft aus Scham darüber geschwiegen und versucht wurde, alles in Vergessenheit zu hüllen. Diese Strategie funktioniert nur nicht. Hege keinen Groll gegen sie.“ sagte Noah sanft. „Du steckst nicht in ihren Schuhen und hast die Situation nicht erlebt.“ Da musste Aurie Noah Recht geben.

 

„Ich zeige Dir jetzt eine Übung, Aurie, die Du machen kannst, um Dich vor den alten Schatten in Deiner Familie und der Welt zu schützen.“

Aurie atmete erleichtert durch. Sie war froh, Noah an ihrer Seite zu haben, der sie all das lehrte.

„Ziehe Dein Licht-Ei um Dich, Aurie, wie ich es Dir beigebracht habe. Achte darauf, dass es Dich ganz umschließt und Du ganz im Licht geborgen bist. Mach Dir mit jedem Atemzug bewusst, dass Du vollständig darin geborgen und beschützt bist. Alles Liebevolle kann bis in Dein Herz dringen, alles Schwere und Negative prallt an Deiner Lichthülle ab. Fülle Dein Licht-Ei mit jedem Atemzug mehr und mehr mit Licht. Sammle das Licht in Dir, wie eine unendliche Sonne. Und mit jedem Ausatmen, lass das Licht in die Welt fließen, wie die Sonne, die ihre wärmenden Strahlen schickt. Fühle den Frieden in Dir.

Sei Dir bewusst, warum Du hier bist. Erinnere Dich an Deine Vision. Es ist Deine Aufgabe, zum Wohle aller Menschen zu handeln, ihnen den Weg zurück zur Liebe zu zeigen und das neue Wissen hier auf die Erde zu bringen. Es ist Deine Aufgabe, das Alte aufzulösen und die reine, erlöste Form des Menschseins zu leben. Auch, wenn Du das Alte, Schwere spüren kannst, das durch alle Menschen vor Dir entstanden ist: es ist nicht Deine Aufgabe, diese Schwere zu übernehmen. Es ist nicht Deine Verantwortung. Leuchte mit Deinem Licht durch die Nacht, leuchte in ihre Herzen. Wenn sie dem Licht folgen, werden sie selbst Verantwortung für das übernehmen, was sie getan haben. Das ist das Gesetz. Alles will ins Licht gebracht werden. Schenke ihnen Deine Liebe, leuchte mit Deinem Licht in ihr Herz. Nimm das Dunkel wahr, aber nimm es nicht in Dich auf. Bitte Deinen Schutzengel, Dich vor den alten Schatten zu beschützen. Halte Dein Licht hoch und stärke es.“

 

Aurie merkte, wie sie wieder mehr durchatmen konnte und wieder Raum in sich spürte. Die drückende Angst, die sie vorher gespürt hatte, überlagerte nicht mehr alles. Sie konnte sie noch wahrnehmen, aber sie hatte nicht mehr das Gefühl, dass sie sie verschlucken würde. Aurie ließ die Liebe aus ihrem Herzen strahlen, hin zu ihrer Großmutter, aber auch zu ihren Vorfahren, die sie nicht mehr kannte. Dabei musste sie lächeln.

 

„Alte Schatten-Energie aufzulösen ist eine große Aufgabe und Kinder brauchen starke geistige Hilfe, um das zu schaffen.“ fuhr Noah fort. „Ich werde Dir zeigen, wie Du Dir dabei Unterstützung holen kannst. Aber nicht mehr heute.“ Noah lächelte sie sanft an.

„Jetzt ist es erstmal wichtig, dass Du lernst, Dein Licht in Deinem Herzen zu sammeln und es zu stärken. Lass Dein Licht in die Dunkelheit strahlen. Lerne, die Dunkelheit zu sehen, ohne sie in Dich aufzunehmen.“

 

Aurie seufzte. Ja, das musste sie wirklich lernen. Sie wollte oft für Erleichterung sorgen, wenn sie diese Schwere oder Angst in ihrem Umfeld spürte. Jetzt aber verstand sie, dass es den anderen nicht half, wenn sie deren Schwere und Unruhe übernahm. Es führte nur dazu, dass ihre eigene Energie weniger wurde. Sie hatte dann dass Gefühl, als würde sie selbst keinen Raum mehr haben, nicht mehr frei atmen können. Das wollte sie nicht.

„Noah? Wird sich das jemals verändern? Werden die Erwachsenen es jemals lernen, dass sie ihre Kinder vor ihren alten Schatten schützen?“ fragte Aurie zweifelnd.

„Schau, Aurie. Indem Du jetzt lernst, Dich vor den alten Schatten zu schützen und Dein Licht und Deine Kraft dadurch stärkst, durchbrichst Du diesen Kreislauf. Du entscheidest Dich aktiv, nicht die alten Muster zu übernehmen. Dadurch hast Du die Chance, Neues in die Welt zu bringen. Das wird auch mit den Erwachsenen etwas machen.“ Noah zwinkerte ihr zu. „Wie das funktioniert, das erkläre ich Dir auch ein andermal. Für heute ist es genug.“

Noah erhob sich.

„Wie gesagt, es ist eine Chance für Deine Familie, dass Du den Wunsch hast, die alten Schatten nicht mehr zu übernehmen und weiterzutragen. Durch Deine Entscheidung wird sich auch für Deine Familie etwas verändern. Sammle das Licht in Dir, Aurie. Lass es in die Welt fließen.“

 

Noah blickte sie tief an und Aurie hatte das Gefühl, als würde sie in seinem Blick und seiner Liebe versinken. Sie fühlte sich so geborgen und beschützt. Noah verschwand und Aurie lehnte an ihrem Apfelbaum, noch ganz berührt von diesem Gefühl. Sie spürte die Liebe in ihrem Herzen strahlen und lächelte. Wie dankbar sie war, diese tiefe Liebe in sich wieder spüren zu können.



[1] Hübl, T. (2021). Kollektives Trauma heilen. Persönliche und globale Krisen verstehen und als Chance nutzen. München: Irisiana Verlag.



© Sara Hiebl

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