Aurie und der Talisman
Seit dem letzten Treffen mit Noah konnte Aurie ihn sehr stark bei sich spüren. Sie hatte den Eindruck, als würde er ganz besonders intensiv über sie wachen. Sie machte sehr oft ihre Licht-Ei-Übung und sammelte das Licht in sich. Am Anfang hatte es sie noch angestrengt, das Dunkle um sie herum wahrzunehmen, ohne es in sich aufzunehmen. Je besser es ihr aber gelang, das Licht aus ihrem Herzen in die Welt fließen zu lassen, desto ruhiger wurde sie und desto kraftvoller fühlte sie sich wieder.
Die Schatten ihrer Großmutter waren immer noch da. Immer wieder war ihre Stirn in tiefe Sorgenfalten gelegt und sie seufzte schwer. Ihre Großmutter war weniger kraftvoll, seitdem die alten Schatten sie wieder eingeholt hatten, und dass tat Aurie leid. Aurie hatte bemerkt, dass sie auch immer öfter bei anderen eine Schwere wahrnehmen konnte, die die Menschen begleitet. Ihr war aufgefallen, wie viele Leute ungelöste Schatten mit sich herumtragen. Wie dankbar war sie doch darum, dass Noah ihr die Licht-Ei-Übung beigebracht hatte! Sie hatte das Gefühl, als könne sie einen dicken Lichtmantel um sich legen, der sie vor dieser Schwere schützte. Sie fragte sich, wie sie diese Energie davor überhaupt hatte aushalten können.
Gedankenverloren lehnte Aurie an ihrem Apfelbaum und spielte mit der Muschel um ihren Hals. Ihre Mutter hatte sie am Meer gefunden und ihr mitgebracht. Oben hatte das Meer ein Loch herausgespült. Dort hatte ihre Mutter ein Lederband hindurch gezogen, sodass Aurie die Muschel um den Hals tragen konnte. Sie liebte diese Kette. Sie hatte das Gefühl, das Meer dadurch immer ganz nah bei sich zu haben. Und sie spürte, dass ihr die Kette Kraft gab, wann immer sie bewusst nach der Muschel griff.
„Einen kraftvollen Talisman hast Du da.“
Aurie hatte gar nicht bemerkt, dass Noah aufgetaucht war. Sie setzte sich auf und strahlte ihn an. Wie wunderbar war es doch, sein Leuchten zu sehen und seine Energie in sich aufzunehmen.
„Durch die Liebe Deiner Mutter; die sie in die Muschel hineingegeben hat, ist die Muschel zu einem Schutzsymbol geworden. Sie gibt Dir Kraft und schützt Dich.“ erklärte ihr Noah.
Aurie legte ihre Hände um die Muschel. Sie konnte die Liebe ihrer Mutter spüren und lächelte dankbar.
„Beim letzten Mal habe ich Dich schon darauf hingewiesen, dass Kinder sehr starke geistige Hilfe brauchen, um alte Schatten-Energien auflösen zu können. Vor allem brauchen sie aber einen wirklich guten Schutz, bevor das möglich ist. Erst, wenn Du gelernt hast, diesen Schutz aufzubauen und aufrechtzuerhalten, werde ich Dir zeigen, wie Du alte Schatten-Energien auflösen kannst.“ Noah blickte sie durchdringend an.
„Ich will Dir heute eine Übung zeigen, durch die Du selbst zu einem sehr starken Talisman werden kannst. Es wird immer wichtiger, sich wirklich vor den alten Schatten schützen zu lernen, damit Du das Neue in die Welt bringen kannst. Alles will ins Licht, alles will erlöst werden. Das heißt aber auch, dass die alten, ungelösten Schatten immer mehr an die Oberfläche kommen. Davor gilt es sich zu schützen, denn sie haben eine mächtige Energie.“ lehrte sie Noah.
„Ist Dir bewusst, dass es noch mehr Engel, außer Deinem Schutzengel gibt!“ fragte Noah sie.
Aurie grinste. „Wenn Du so fragst, dann gehe ich davon aus! Ich habe sie noch nicht gesehen.“ Aurie dachte kurz nach. „Aber ich nehme mal an, dass die vielen Geschichten, die es über Engel gibt, alle einen wahren Kern haben.“
„Durchaus, Aurie, durchaus. Damit Du selbst zu einem kraftvollen Talisman werden kannst, hilft Dir die Energie der Erzengel.“
„Was sind Erzengel?“ wollte Aurie wissen. „Ich kenne sie nur aus der Kirche und in den Geschichten der Bibel sind sie immer übermächtig und oft furchteinflößend.“
„Du musst keine Angst haben.“ Noah sah sie liebevoll an. „Die Menschen haben früher viel mit Macht und Angst gearbeitet. Dafür wurden auch die Religionen missbraucht. Vor allem Dinge, die sie nicht erklären konnten, wurden oft übermächtig dargestellt. Erzengel unterstützen Dich bei Deiner Entwicklung hin zu einem Menschen, der die Liebe lebt, jeder Form des Lebens mit Güte und Achtsamkeit begegnet. Der zum Wohle aller handelt. Sie sind Ausdruck der reinen göttlichen Kraft, Weisheit und Güte. Diese Engel sind tief verbunden mit dem göttlichen Sein. Erzengel erschaffen Leben. Leben lässt sich nur aus der Schwingung der Liebe heraus erschaffen.“
Aurie atmete durch. Das hatte sie inzwischen gelernt. Wenn etwas in reiner Liebe schwang, musste sie davor keine Angst haben.
„Um Deinen Schutz zu verstärken, zeige ich Dir eine Übung, bei der Du Erzengel Gabriel um Hilfe bittest.“ erklärte ihr Noah weiter. „Er ist ein ausgesprochen sanfter und liebender Erzengel. Er unterstützt Dich, dass Du in Deinem Körper Frieden und Harmonie fühlst und schützt Dich. Wenn Du die Übung, die ich Dir gleich zeige, intensiv machst und bewusst einen fünfzackigen Stern auf Deinem Energiekörper visualisierst, erschaffst Du einen starken Schutz.“
„Mein Energiekörper?“ fragte Aurie.
„Dein Energiekörper, Fachleute nennen ihn den ätherischen Körper, durchdringt Deinen physischen, materiellen Körper und ragt etwas darüber hinaus. Er ist Dein Energiefeld, dass Dich durchdringt und umgibt. Jenes Feld, dass Du mit der Licht-Ei-Übung gelernt hast zu schützen.“ schmunzelte Noah. „Stell Dich hin, Aurie.“
Aurie erhob sich aus dem Gras und streckte sich.
„Wenn Du Dich mit zur Seite ausgestreckten Armen hinstellst und Deine Beine weit auseinanderstellst, dann bildest Du mit Deinem Körper einen fünfzackigen Stern. Deine Beine sind die zwei nach unten gerichteten Sternspitzen. Deine Arme bilden eine Spitze nach rechts und links und Dein Kopf ist die Spitze nach oben.“ erklärte ihr Noah.
Aurie stellte sich so hin, wie Noah es ihr erklärte.
„Atme tief und bitte Erzengel Gabriel, Dich zu schützen. Hebe beide Arme über Deinen Kopf, sodass Deine Hände eine Spitze bilden. Stell Dir vor, wie aus Deinen Händen das himmelblaue Licht des Erzengels Gabriels fließt. Spür das Licht aus Deinen Händen strömen. Ziehe mit Deinen Händen gleichzeitig eine blaue Linie zu Deinen Füßen – mit der rechten Hand zum rechten Fuß und mit der linken Hand zum linken Fuß. Hebe beide Arme wieder an und kreuze sie über der Brust, d.h. die linke Hand geht zur rechten Seite und die rechte Hand zur linken. So ziehst Du die blaue Linie von Deinen Füßen jeweils auf die Seite nach außen auf die Höhe Deiner Schultern. Jetzt strecke beide Arme zur Seite aus, sodass sich die blaue Linie horizontal auf Höhe Deiner Schultern miteinander verbindet. Jetzt bist Du von einem fünfzackigen Stern aus himmelblauem Licht umgeben. Zieh den Stern ruhig zwei- bis dreimal um Dich. Atme tief und nimm die ruhige, wohltuende Anwesenheit des Erzengels Gabriel wahr und seinen starken Schutz, der Dich umgibt. Bedank Dich bei ihm, dass er Dich schützt.“[1]
Aurie zeichnete den blauen Stern drei Mal um sich, so wie Noah es ihr erklärt hatte. Dabei merkte sie, wie sie sich innerlich viel kraftvoller fühlte. Sie hatte tatsächlich das Gefühl, als würden die Schatten von ihr zurückweichen. So, wie wenn man eine helle Taschenlampe anschalten würde, deren Lichtkegel sich ins Dunkel ausdehnt. Das gefiel ihr.
„Du kannst diese Übung auch machen, ohne dich mit Deinem Körper aktiv hinzustellen, sondern es Dir nur innerlich vorstellen. Du nutzt dann Deine energetischen Hände und ziehst den Stern um Dich. Je intensiver Du diese Übung machst, desto schneller kannst Du Dir Erzengel Gabriel zu Hilfe holen und den Stern aktivieren, wenn Du seinen Schutz wirklich brauchst. Wenn Du Deine Licht-Ei-Übung mit der Übung des fünfzackigen Sterns verbindest, wird Dein Schutz noch kraftvoller.“ wies Noah sie an.
Aurie setzte sich wieder ins Gras und lehnte sich an den Apfelbaum. Dieses neue Gefühl in ihrem Körper musste sie erst einsortieren. Sie hatte das Gefühl, als hätte sie jetzt wieder mehr Platz in sich selbst. Sie seufzte tief und sah Noah gedankenverloren an. Leise murmelte sie: „Danke.“ und Tränen rannen ihr übers Gesicht. Noah blickte sie gutmütig an.
„Lass die Tränen laufen, Aurie. Sie sind ein Zeichen dafür, dass sich in Dir etwas gelöst hat. Wenn uns die tiefste Liebe berührt, dann fließen oft Tränen. Tränen der Glückseligkeit und Geborgenheit. Und gleichzeitig spiegeln sie auch die Traurigkeit über den Schmerz wider, den die ungelösten Schatten verursachen. Die Traurigkeit darf da sein. Es wird der Tag kommen, an dem ich Dir zeige, wie Du weiter mit den Schatten arbeiten kannst, um den Schmerz aufzulösen. Jetzt lernst Du erstmal, Dich mit dem Schutz von Erzengel Gabriel zu verbinden.“
Aurie war dankbar über die Worte von Noah. Der Engel stand auf und trat vor sie. Und das erste Mal ließ er sie sehen, wie er seine Flügel um sie legte. Sie war ganz und gar in sein goldenes Licht eingehüllt. Tiefe Liebe floss in jede Zelle ihres Körpers und sie fühlte große Ruhe und Geborgenheit durch sich strömen. Voller Dankbarkeit lehnte sie sich zurück und ließ sich in diese Liebe sinken. Dabei schlief sie ein. Als sie nach einer Weile wieder erwachte, begann die Sonne gerade unterzugehen. Noah war nicht mehr zu sehen, aber sie konnte ihn immer noch spüren und tiefer Frieden erfüllte sie.
[1] Theotoki-Atteshli, P. (1997). Daskalos Meditationen. Tore zum Licht. Duisburg: Edel-Druck GmbH.
© Sara Hiebl