Aurie und die Arbeit mit den Schatten
In den letzten Wochen war Aurie sehr still gewesen und hatte sich häufig in den Garten zurückgezogen. Sie hatte das Gefühl, wieder mehr Platz in sich zu haben, seitdem sie die Übung mit dem blauen Stern das erste Mal gemacht und Erzengel Gabriel um Unterstützung gebeten hatte. Irgendwie war ihr danach, auch im Außen Platz zu haben und wenig mit Leuten zusammen zu sein, die ihre ungelösten Schatten noch mit sich herumtrugen. Sie genoss die Stille und hatte das Gefühl, seit langem wieder frei atmen zu können. Ihr war klar, dass sie sich nicht ewig zurückziehen konnte, aber gerade tat es ihr gut.
Aurie stand unter ihrem Apfelbaum und schloss die Augen. Sie malte bewusst ihr Licht-Ei um sich, wie sie es inzwischen schon so oft getan hatte. Sie spürte die Kraft und die Liebe, die sie sanft umschloss, und ließ sich in diese Geborgenheit fallen. Dann breitete sie die Arme aus und stellte ihre Füße hüftbreit auf den Boden. Sie atmete tief ein und bat Erzengel Gabriel darum, sie zu schützen. Mittlerweile konnte sie seine Energie spüren, wenn er bei ihr auftauchte. Sie hatte die Übung in den letzten Wochen wirklich oft gemacht. Sie hob beide Arme über den Kopf, sodass ihre Hände eine Spitze bildeten, und ließ das himmelblaue Licht Gabriels aus ihren Fingerspitzen strömen. Mit beiden Händen zog sie eine himmelblaue Linie aus Licht zu ihren Füßen. Rechte Hand, zum rechten Fuß, linke Hand, zum linken Fuß. Mit dem nächsten Atemzug hob sie ihre Arme wieder an und überkreuzte sie über vor ihrer Brust. So zog sie die himmelblaue Linie auf Höhe ihrer Schultern. Dann atmete sie tief aus und streckte beide Arme zur Seite hin aus, sodass sich die Lichtlinie auf Höhe ihrer Arme verbinden konnte. Sie wiederholte die Übung dreimal. Zum Schluss bedankte sie sich bei Erzengel Gabriel für seinen Schutz und atmete tief.[1]
Aurie stand mit geschlossenen Augen unter ihrem Apfelbaum, spürte ihre Füße im Gras und atmete tief. Sie fragte sich, ob die Schatten ihrer Großmutter nun immer so stark spürbar bleiben würden. Sie fühlte darüber plötzlich eine tiefe Traurigkeit in ihrem Herzen. So viel Energie und Lebensfreude, die dadurch verloren ging! Wenn sie das schon bei ihrer Großmutter so deutlich spüren konnte, was bedeutete das wohl für die ganze Welt? Was machten die alten, schweren Schatten in der Welt, die zum Beispiel Kriege hinterlassen haben, mit den Menschen? Welche Schatten hinterließen Streitigkeiten in Familien, die nie gelöst wurden? Aurie konnte plötzlich das Leid der Menschen spüren, als sie ihr Herz dafür öffnete. Ihr wurde richtig schlecht dabei. Schnell konzentrierte sie sich wieder auf den blauen Stern, zog ihn noch einmal um sich und bat Erzengel Gabriel um seinen Schutz. Das hatte sie nicht erwartet. Sie atmete tief. Aurie fragte sich, ob es denn keine Möglichkeit gab, diese Schatten und das alte Leid aufzulösen.
„Doch, die gibt es.“
Aurie erkannte die vertraute Stimme von Noah und lächelte glücklich. Sie öffnete die Augen und war wie verzaubert von seinem gold-gelben Strahlen. Es war immer wieder ein Geschenk, seine Energie und den tiefen Frieden zu spüren, der von ihm ausging.
„Selbstverständlich ist es möglich, die alten Schatten aufzulösen.“ wiederholte Noah. „Der Schmerz, der entstanden ist, wenn die Menschen nicht zum Wohle aller gehandelt haben – sei es nun durch einen Krieg im ganzen Land oder Streitigkeiten – wandert so lange durch die Generationen, bis jemand bereit ist, ihn zu fühlen. Oft versuchen die Menschen allerdings diesen Schmerz weiter zu unterdrücken und nicht darüber zu sprechen. Auch, weil sie sich dafür schämen und die Verantwortung für das Geschehene nicht tragen wollen. Wie ich Dir schon sagte, Aurie – Du bist ein Geschenk für Deine Familie, denn Du bist bereit, diesen Schmerz zu fühlen. Und mit Dir ist es möglich, den alten Schmerz aufzulösen und die Muster zu durchbrechen, damit das Neue entstehen kann.“ sagte Noah sanft.
„Wie soll das gehen?“ fragte Aurie. „Nur weil ich den alten Schmerz meiner Familie fühle, wird er sich auflösen?“
Noah grinste. „Damit beginnt es, ja. Ich zeige Dir, was Du tun kannst.“ Er blickte sie gutmütig an.
„Die Schutzübung mit dem blauen Stern in Verbindung mit Deinem Licht-Ei hast Du ja schon gemacht. Das ist ganz wichtig, damit Du nicht von dem alten Schmerz überrollt wirst, wenn Du beginnst zu arbeiten. Du hast ja gemerkt, die Energie kann sehr heftig sein. Sie hat sich ja schon lange aufgestaut.
Jetzt stell Dir Deine Ahnen vor Deinem inneren Auge vor, wie sie alle vor Dir stehen, in dem Abstand, wie Du Dich wohl fühlst. Heiße sie willkommen.
Erinnere Dich daran, was ich Dir über die Dankbarkeit beigebracht habe.“
Aurie erinnerte sich an den Kreislauf des Gebens und Nehmens und was Noah sie über die Dankbarkeit gelehrt hatte.
„Deine Vorfahren haben viel geleistet. Sie haben Dir den Weg geebnet, damit Du jetzt so in dieser Welt leben kannst, wie Du es tust. Dass Du all das in Deinem Leben hast, was Dir das Leben angenehmer macht, als allen Menschen vor Dir. Ohne Deine Vorfahren wäre das nicht möglich. Schätze, was Deine Vorfahren geleistet haben. Fülle Dein Herz mit Dankbarkeit dafür.“ Noah machte eine kurze Pause.
„Erkenne, dass sie das für sie damals Bestmögliche geleistet und die Verantwortung getragen haben, die sie konnten. Es steht Dir nicht zu, zu beurteilen, ob das „richtig“ oder „falsch“ war, oder „ausreichend“ oder „zu wenig“. Du hast diese Situation nicht erlebt. Wer weiß, was Du selbst in dieser Situation getan hättest. Akzeptiere, dass das die Vergangenheit ist.“ erklärte ihr Noah.
Aurie dachte darüber nach, was Noah gesagt hatte. Sie merkte, dass sie Widerstand in sich spürte. Wie konnte sie denn einen Krieg akzeptieren?
„Aurie.“ Noah lächelte sie an. Natürlich hatte er ihren Widerstand bemerkt, noch bevor sie etwas hatte sagen können. „Im Widerstand mit etwas zu sein, was schon längst passiert ist, ist völlig unnütz! Erinnere Dich daran. Du kannst den Krieg nicht mehr ungeschehen machen.“ sagte Noah sanft. „Was Du aber tun kannst, ist dazu beizutragen, dass sich solche Dinge nicht wieder ereignen. Das ist Deine Verantwortung. Wenn Du alle Fehler von Dir und Deinen Vorfahren aus der Vergangenheit löschst, dann würdest Du auch Deine Weisheit aus diesen Erfahrungen jetzt in der Gegenwart löschen. Erinnere Dich also an die Lehre aus den alten Fehlern.“
Ja, dass leuchtete Aurie ein. Es wäre dramatisch, sich nicht mehr daran zu erinnern, was ein Krieg in der Menschheit auslöst.
„Sei Dir bewusst: Deine Ahnen haben das Bestmögliche gegeben, was sie zu dem damaligen Zeitpunkt und mit ihrem Bewusstsein konnten. Wäre ihnen mehr möglich gewesen, hätten sie es getan. Bedanke Dich dafür.“
Während Aurie in das Gefühl der Dankbarkeit für ihre Ahnen ging, konnte sie spüren, wie sich große Wärme in ihr ausdehnte. Sie hatte das Gefühl, als würde von der Gruppe ihrer Ahnen, die sie innerlich vor sich sah, große Freude ausgehen. Und ebenfalls Dankbarkeit, bemerkte Aurie überrascht. „Sie freuen sich, dass ihre Leistung und Anstrengung von Dir gesehen werden.“ bestätigte Noah ihre Wahrnehmung.
„Jetzt sag Deinen Ahnen, dass Du ihnen helfen willst, altes Leid und Schmerz, der durch ihr Handeln oder auch Nicht-Handeln entstanden ist, aufzulösen. Damit alte Wunden heilen können und Friede entsteht. Friede, der dann auch Raum für neue Wege, neue Möglichkeiten und neues Miteinander schafft. Das ist dringend notwendig auf der Erde.“ forderte Noah sie auf.
Aurie formulierte diesen Wunsch in sich, denn es war ihr wirklich wichtig. Und wieder spürte sie eine große Freude, die ihr von der Gruppe ihrer Ahnen entgegenkam.
„Durch Deine Bereitschaft, den alten Schmerz aufzulösen, hilfst Du ihnen, Verantwortung zu übernehmen und Dinge wieder gut zu machen, was ihnen zu Lebzeiten nicht mehr möglich war.“ erklärte ihr Noah.
Aurie lief ein tiefer Schauer über den Rücken. Das, was Noah gesagt hatte, berührte sie sehr.
„Weil alles mit allem verbunden ist und ihr gemeinsame Wurzeln habt, kannst Du den ungelösten Schmerz Deiner Ahnen wahrnehmen. Auch diese Erfahrungen sind in Deinem Körper, Deinen Zellen gespeichert, wie ich Dir schon erklärt habe.“ sprach Noah weiter. „Bitte jemanden Deiner Ahnen, der zuerst mit Dir arbeiten möchte, nach vorne zu treten. Wen kannst Du sehen?“ fragte Noah.
„Meine Großmutter.“ flüsterte Aurie.
„Erlaube Dir jetzt, den ungelösten Schmerz Deiner Großmutter und die damit verbundenen Gefühle in Deinem Körper wahrzunehmen.[2] Sei Dir bewusst, dass Du ganz in der Liebe geschützt und geborgen bist und Dir nichts geschehen kann. Ich halte meine Flügel schützend über Dich und genauso tut es Erzengel Gabriel, wie Du ihn gebeten hast.“
Aurie atmete tief. Ganz langsam traute sie sich, sich für den Schmerz ihrer Großmutter zu öffnen und ihn in ihrem Körper zu spüren. Aber sie war froh, Noah bei sich zu wissen. Aurie merkte, wie sich ihr Magen zusammenkrampfte. Ihr war schlecht und sie fühlte große Angst in sich aufsteigen. Dann spürte sie große Traurigkeit und das elendige Gefühl, verlassen zu sein.
„Entschuldige Dich für das Leid, dass entstanden ist.2“ wies Noah sie an.
Aurie rannen Tränen die Wangen hinunter. „Es tut mir leid, dass meine Großmutter so eine große Angst erleben musste. Dass niemand da war, der ihr die Angst nehmen konnte. Es tut mir leid, dass sie verlassen wurde, weil die anderen mit ihrer eigenen Angst kämpften. Es tut mir leid, dass sie den Krieg erleben musste. Es tut mir leid, dass niemand in der Lage war, meine Großmutter vor diesem Schmerz zu schützen. Es tut mir leid, dass so viel Schmerz entstanden ist.“ Die Worte kamen wie von selbst in Aurie hoch.
„Bitte um Verzeihung für das, was geschehen ist.2“ leitete Noah sie weiter an.
„Bitte verzeih, dass die Eltern meiner Großmutter in diesem Moment nicht für sie da sein konnten. Bitte verzeih, dass niemand an meine Großmutter gedacht hat. Verzeih, dass dieser Krieg entstanden ist und so viel Leid verursacht hat. Bitte verzeih meiner Großmutter, dass sie so große Angst hatte und die Angst ihr ganzes Leben lang nicht loslassen konnte. Bitte verzeih, dass die Menschen die Kraft der Liebe vergessen haben.“ flüsterte Aurie. Dabei bemerkte sie, wie sich große Erleichterung in ihr auszubreiten begann.
„Jetzt geh in die Liebe.“2, sagte Noah sanft. „Fülle Dein Herz mit Liebe, wie ich es Dir schon beigebracht habe, und lass sie in Dir mit jedem Atemzug wachsen. Lass die Liebe mit Deinem Atem fließen, hin zu Deiner Großmutter, hin zu ihren Eltern, hin zu den Menschen im Krieg. Lass alle Schwächen und Fehler Deiner Ahnen in dieser Liebe versinken. Liebe die Erfahrung und die Lehre aus dieser Situation, denn sie ist wertvoll für die Menschen heute. Spür die Liebe, die auch von Deinen Ahnen zu Dir fließt.“
Aurie dehnte ihr Herz in der Liebe aus und ließ sie zu ihrer Großmutter, deren Eltern und den Menschen im Krieg fließen. Da sie es so oft geübt hatte, fiel es ihr jetzt leicht. Als sie die Liebe spürte, die von ihren Ahnen zu ihr zurückstrahlte, war sie tief berührt.
„Und jetzt, geh nochmal in die Dankbarkeit.“ 2 sprach Noah weiter.
Aurie atmete tief durch. „Ich bin dankbar, dass der Nachbar meine Großmutter entdeckt und beschützt hat und dass sie noch am Leben ist. Ich bin dankbar dafür, dass ich keinen Krieg erleben muss. Ich bin dankbar, dass ich die Ursache der Unruhe in mir erkennen durfte. Ich bin dankbar, dass Du mir gezeigt hast, wie ich die Schwere auflösen kann.“
„Erlaube, dass Heilung geschieht. Sei dankbar für das Wunder. Sei dankbar für Dein Leben.“ 2 ergänzte Noah.
Aurie spürte eine tiefe Erleichterung und Ruhe in sich. Sie atmete seufzend und befreit aus und öffnete die Augen. Noah stand vor ihr und strahlte sie an.
„Vergebung ist die Türe zur Liebe, Aurie. Sie vermag alles zu heilen.“ [3] sagte er sanft. „Das, was wir gerade gemacht haben, nennt sich Ho’oponopono und ist ein altes hawaiianisches Vergebungsritual. Du kannst es immer machen, um alte Schatten aufzulösen und Freiheit und Frieden für Dich und Deine Ahnen zu schaffen. Du kannst es aber auch anwenden, wenn Du selbst einen Fehler gemacht oder unrecht gehandelt hast. Dann gilt es, Dir zuerst selbst zu vergeben, damit Du dann aus der Liebe heraus Dein Handeln korrigieren und Verantwortung übernehmen kannst. Erinnere Dich zum Beispiel an Deine Wut auf Deine Freundin, als sie umgezogen ist.“ Noah zwinkerte ihr zu.
„Noah, das war sehr anstrengend.“ Aurie schwieg kurz. „Aber ich bin Dir so dankbar, dass Du mir das gezeigt hast! Ich fühle mich so erleichtert. Und ich bin wirklich froh, dass die alten Schatten nicht für immer fortbestehen müssen. Wenn nur alle Menschen das wüssten und die alten Schatten auflösen würden! Das wäre so eine Erleichterung für uns alle!“
„Da kann ich Dir nur Recht geben, Aurie. Ich kann Dir sagen: schon jeder Einzelne bewirkt eine Veränderung. Jeder kleine Schatten, der aufgelöst wird, bewirkt eine Lösung in der Vergangenheit und eine Lösung in der Gegenwart. Und daraus wird sich eine neue Zukunft kreieren. Alles ist mit allem verbunden.“ Noah schmunzelte.
„Jetzt werde ich gehen, Aurie. Du bekommst Besuch.“ sagte Noah unvermittelt und schon war er verschwunden.
Aurie sah sich verwundert um. Da entdeckte sie ihre Großmutter, die vom Haus herunter zu ihr in den Garten kam. Sie setzte sich auf die Bank am Teich und winkte Aurie zu sich. Aurie rannte zu ihr und schlang die Arme um sie. Ihre Großmutter küsste sie auf den Scheitel und flüsterte: „Was für ein Geschenk bist Du doch für diese Welt.“ Dann saß sie mit Aurie dort und blickte schweigend auf den Teich. Und Aurie konnte spüren, dass der Schatten in ihrer Großmutter wieder etwas kleiner geworden war. Sie lächelte still und war sehr dankbar in ihrem Herzen. Irgendwann würde sie ihrer Großmutter ihr Geheimnis erzählen – aber noch nicht heute.
[1] Theotoki-Atteshli, P. (1997). Daskalos Meditationen. Tore zum Licht. Duisburg: Edel-Druck GmbH.
[2] Duprée, U. E. (2021). Ho’oponopono. Das hawaiianische Vergebungsritual. 38. Auflage. Darmstadt: Schirner Verlag.
[3] Kaiser, A. (2022). Die Fischerin. Ein neuer Archetypus. S. 82. Zürich: Licht-Herz Verlag.
© Sara Hiebl