Aurie und die Freude
Aurie hatte das Gebet von Noah tief in sich aufgenommen und in den letzten Wochen immer wieder innerlich vor sich hingesagt:
„Lege Deine Hand auf mein Herz, lass mich spüren, dass Du da bist.
In Deiner Liebe kann ich mich ganz entfalten.
Ich erkenne, was der nächste Schritt ist.
Lass mich ganz der Schöpferkraft dienen, die Liebe wird sich weiter ausdehnen.
Schenke mir Kraft und begleite mich.“
Es hatte ihr öfters geholfen. Zum Beispiel war sie in der Mathearbeit gesessen und hatte sich plötzlich an nichts mehr erinnern können. Angst war in ihr aufgekommen, dass sie jetzt völlig versagen und nichts mehr schaffen würde. Da hatte sie sich an Noahs Worte erinnert und tief durchgeatmet. Sie hatte die Hand auf ihr Herz gelegt und sein Gebet gesprochen. Dann konzentrierte sie sich auf ihre Atmung, so wie Noah es ihr beigebracht hatte, um ihren Stress wieder zu senken. Beim Einatmen bis zum Scheitel am Kopf atmen, beim Ausatmen bis zu den Fußsohlen.[1] Sie hatte tief geatmet und gespürt, wie sie sich wieder mehr entspannen konnte. Dann hatte sie sich die verschiedenen Aufgaben angesehen und für sich geprüft, mit welcher Aufgabe sie jetzt weitermachen wollte. Bei einer Aufgabe hatte sie wieder Panik und Unruhe in sich aufkommen gefühlt, bei einer anderen Aufgabe Ruhe und ihr Atem war frei dabei geworden. Also begann sie mit dieser Aufgabe. Und so hatte sie sich durch ihre Mathearbeit gearbeitet. Am Ende hatte sie eine drei geschrieben und war sehr dankbar dafür gewesen.
Ein andermal war sie in der Schule auf dem Klo gewesen und hatte dort ein anderes Mädchen getroffen. Sie hatte plötzlich das deutliche Gefühl gehabt, dass das Mädchen sehr traurig war, obwohl man es ihr nicht direkt ansehen konnte. Dieses Gefühl war mehrfach aufgetaucht und beim Händewaschen hatte sie sie schließlich gefragt: „Sag mal, bist Du traurig?“ Daraufhin begannen dem Mädchen Tränen über die Wange zu kullern und sie hatte genickt. Aurie hatte sie in den Arm genommen und das Mädchen erzählte ihr, dass in der Nacht ihre Katze gestorben war. Aurie hatte sie einfach in ihrem Arm gehalten. Nach einer Weile hatte das Mädchen aufgehört zu schluchzen. Sie hatte sich bei ihr bedankt: „Das habe ich wirklich gebraucht, danke!“
Gedankenverloren saß Aurie unter ihrem Apfelbaum und drehte einen Grashalm zwischen ihren Fingern, als sie darüber nachdachte. Sie seufzte tief. Es gab Momente, da war sie so tief verbunden und es gab Zeiten, da war das nicht so. So wie jetzt gerade. Seit einer Woche ärgerte sie sich sehr über ihre Eltern. Aurie wollte unbedingt in einen Freizeitpark fahren, aber ihre Eltern wollten es ihr einfach nicht erlauben, geschweige denn mit ihr hinfahren. Missmutig zog sie die Stirn in Falten. Zu teuer. Pfff! Sie verdarben einem aber auch wirklich jeglichen Spaß.
„Ist das so?“ hörte sie plötzlich Noahs Stimme. Aurie blickte auf und sah in Noahs Strahlen. Er stand direkt vor ihr.
„Ja!“ gab Aurie gereizt zurück.
„Tatsächlich? Oder sind es Deine Gedanken, die Dir gerade die Freude in Dir verderben?“ fragte Noah nach und lächelte sie dabei an.
Aurie war genervt. „Sie könnten mich doch einfach da hinlassen. Was ist denn schon dabei?!“
Aurie blickte ihn grollend an.
„Ich weiß, Aurie, Du willst das nicht hören. Aber möchtest Du in Deinem Widerstand bleiben oder soll ich Dir helfen?“ fragte Noah.
Aurie seufzte tief. Wahrscheinlich hatte Noah Recht und sie verdarb sich selbst ihre Freude durch ihre Gedanken.
„Waren Deine Gedanken gegenüber Deinen Eltern in der letzten Woche hilfreich für Dich? Haben sie für eine gute Beziehung zwischen Euch gesorgt?“ Noah sah sie streng aber liebevoll an.
Aurie schüttelte den Kopf.
„Dann ist es jetzt wichtig, das auszugleichen, Aurie. Erinnere Dich, was ich Dir über die Kraft Deiner Gedanken beigebracht habe.“
Ohje. Aurie wurde bewusst, wie unachtsam sie mit ihren Gedanken in der letzten Woche gewesen war und es tat ihr leid. Sie ärgerte sich zwar über ihre Eltern, weil sie sie nicht fahren lassen wollten, aber diese Energie hatten sie wirklich nicht verdient.
„Denk an die schönen Erlebnisse, die Du mit oder durch Deine Eltern schon hattest.“ riet ihr Noah.
Aurie lehnte sich zurück und ließ viele schöne Erinnerungen durch ihr Bewusstsein wandern. Sie merkte, wie sie sich innerlich entspannte und ein Lächeln auf ihrem Gesicht auftauchte.
„Ich möchte Dir heute etwas über die Freude erzählen.“ hörte Aurie Noah nach einer Weile sagen.
Aurie setzte sich neugierig auf.
„Es gibt eine Freude in Dir, die unabhängig ist von dem, was um dich herum geschieht. Sie ist immer da und begleitet Dich still. Sie nährt Dich täglich und gibt Dir Kraft. Ein stilles Lächeln geht aus ihr hervor. Diese Freude entsteht aus der tiefen Verbundenheit und dem Vertrauen zum All-Einen. Sie ist ein Ausdruck der tiefen Liebe, mit der Du verbunden bist.“ erklärte Noah.
Aurie erinnerte sich, was Noah ihr einmal über die Liebe gesagt hatte: „Die Liebe ist in Dir zu Hause, sie ist niemals getrennt von Dir.“
„Ganz genau, Aurie. Deshalb kann Dich auch diese tiefe Freude nicht verlassen. Man kann sie auch als Glückseligkeit beschreiben. Sie ist wie der Boden, auf dem das Gras wächst, der alles trägt.“ erzählte Noah. „Diese Freude wird von stillem Staunen über alles, was ist, begleitet.“ Noah machte eine kurze Pause.
„Und dann gibt es noch die Freude über etwas, das Vergnügen. Sie ist immer an ein Ereignis gebunden. Also die Freude über ein Geschenk, über Sonnenschein, über eine nette Begegnung zum Beispiel. Diese Freude ist eine Emotion und wird ausgelöst von außen. Sie ist also mal da und mal nicht. Je nachdem, was gerade passiert.“
Aurie begann zu verstehen, was Noah ihr beibringen wollte. Sie hatte sich so auf die Freude, das Vergnügen, durch ein Ereignis, den Freizeitpark, konzentriert, dass sie alles andere, was schön in ihrem Leben war, völlig missachtet hatte. Dadurch war es viel kleiner geworden, bemerkte sie mit etwas Traurigkeit. „Ich merke jetzt, dass ich mir damit das Leben eigentlich selbst schwer gemacht habe.“ gab Aurie zu.
„Ja, Aurie. Du hast Dich abhängig gemacht mit Deiner Freude von dem, was passiert.“ bestätigte Noah.
„Freude hat zwei Aspekte. Wir verwenden in unserer Sprache jedoch das gleiche Wort dafür. Dadurch passiert aber genau das, was Du erlebt hast: wir verknüpfen die Freude mit einem bestimmten Ereignis und vergessen, dass sie schon längst Teil von uns ist. Deshalb erleben wir oft Enttäuschungen und Frust, wenn das Ereignis nicht eintritt. Wenn wir in der Freude, der grundlegenden Glückseligkeit sind, dann sind wir unabhängig davon. Wir gehen mit dem, was das Leben uns offenbart und erleben dabei oft Überraschungen. Die Dinge geschehen für uns. Wenn wir uns nicht auf etwas Bestimmtes fixieren, dann sind mehr Möglichkeiten erreichbar und wir lassen uns mehr von der inneren Führung leiten. Der Verstand urteilt weniger in „gut“ und „schlecht“. Und dadurch erleben wir weit mehr Freude, als wir es für möglich halten würden. Diese Freude ist zudem verknüpft mit Dankbarkeit und endet nicht mit dem Erlebnis, sondern setzt sich fort. Eine grundlegende Glückseligkeit, die in uns schwingt.
Die Freude, die an ein bestimmtes Ereignis geknüpft ist und sich daran klammert, wird niemals satt. Sie ist vom Ego getrieben und will immer mehr. Hier kannst Du nur verlieren.“ erklärte ihr Noah.
Aurie atmete tief durch. Sie war dankbar, dass Noah ihr den Unterschied der Freude erklärte. Sie wollte nicht abhängig werden von etwas im Außen.
„Die Freude, die an ein Ereignis geknüpft ist, resultiert aus unbewussten Wunschgedanken, die geleitet sind von Gefühlen. Sie sind oft geprägt durch unsere Erfahrungen, aber auch wie wir erzogen sind.“ sprach Noah weiter.
„Wie meinst Du das?“ fragte Aurie nach.
„In manchen Familien ist es sehr wichtig Erfolg zu haben und Leistung zu zeigen. Wenn man das früh lernt, dann entstehen unbewusste Wunschgedanken, um etwas zu erreichen, was dieses Erfolgsgefühl immer wieder schafft und aktiviert. Bleibt dieses Gefühl aus, erleben wir einen Mangel und sind enttäuscht oder frustriert. Genauso ist es mit dem Gefühl, etwas haben zu müssen, was wir in der Werbung oder bei anderen Leuten gesehen haben. Die Sucht nach Vergnügen und der Erfüllung der Freude im außen. Dies ist nicht möglich.“ erklärte Noah.
„Gedankenwünsche hingegen sind bewusste Elementale (Gedankenformen, die Du mit Kraft auflädst), die aus einem tiefen Wissen Deiner Seele entstehen. Sie sind mit den tiefen Bedürfnissen Deiner Seele verwoben, die ihre Vision hier auf der Erde leben will.[2] Erinnere Dich an Deine Vision.“ Noah lächelte Aurie an. „Du möchtest den Menschen zeigen, welche Möglichkeiten sich ergeben, wenn Du im Vertrauen bist. Das kannst Du gut mit Deiner Familie üben.“ Er zwinkerte ihr zu.
„Und wie?“ fragte Aurie.
„Wenn in Dir das Bedürfnis auftaucht, eine gute Zeit mit Deinen Eltern zu haben, dann stelle Dir vor, wie sie aussieht. Wie fühlt es sich ganz genau an, wenn ihr eine gute, freudvolle Zeit miteinander verbringt? Stell Dir das vor, als ob die Situation schon da ist. Fokussiere Dich voll und ganz auf dieses Erleben. Aber sei frei von dem Verlangen, wie es genau aussehen soll, also zum Beispiel, dass es ein Freizeitpark sein muss. Dadurch gibst Du Energie in das Ergebnis, bist aber frei von einer bestimmten Vorstellung, wie dieses erreicht wird. Schicke den Gedankenwunsch hinaus und vertraue darauf, dass es passiert. Und dann lass das Leben sich entfalten. Wenn es etwas zu tun gibt, dass Du dazu beitragen kannst, dann wirst Du es wissen und es tun. Es werden sich Möglichkeiten auftun, die zu diesem Ergebnis, einer guten, freudvollen Zeit mit Deinen Eltern, führen und Du kannst wählen. Das Universum kennt mehr Möglichkeiten, als Dein Verstand jemals fassen kann.“ Noah grinste sie an. „Wenn Du frei von einer bestimmten Vorstellung bist, dann bist Du mit dem Leben im Einklang. Du fließt mit dem, was zu Dir kommen will. Erinnere Dich an das, was ich Dir über das Gesetz der Anziehung, des Gebens und Nehmens beigebracht habe. Die Fülle kann nur zu denen kommen, die sie schon haben und geben.“ schloss Noah.
„Also, wenn ich mir vorstelle, dass ich die gute Zeit mit meinen Eltern habe, so als passiert es schon, dann wird sie mit hoher Wahrscheinlichkeit auch kommen, weil ich diese Energie in die Welt schicke. Habe ich das richtig verstanden?“ fragte Aurie.
„Ganz genau, Aurie. Wie das dann ganz genau aussieht – lass das Leben sich entfalten und wähle unter den Möglichkeiten, die sich ergeben. Darin liegt eine viel größere Trefferquote und Du wirst weniger Enttäuschungen erleben. Und Deine grundlegende Freude, die Glückseligkeit in Dir, wird durch die Freude über das, was Du erleben darfst, ergänzt.“ Noah schwieg und sah Aurie liebevoll an.
Aurie blickte in sein Strahlen und dachte über das nach, was er ihr über die Freude erklärt hatte. Sie merkte, dass sie in sich besänftigt war und der Groll aus der letzten Woche verschwunden war. „Vielleicht kann ich ja mit meinen Eltern darüber reden, warum mir das mit dem Freizeitpark wichtig ist. Und dann können wir besprechen, welche Möglichkeiten es gibt.“ überlegte Aurie.
„Das ist eine gute Idee.“ sagte Noah. „Achte in den nächsten Wochen darauf, Aurie, wann Du in Dir die stille Freude spüren kannst, die aus der Verbundenheit mit der Liebe entsteht. Und wann auch immer Du das Gefühl von Enttäuschung oder Frust spürst, weil etwas nicht geschieht, prüfe Deine Wunschgedanken.“
„Das werde ich tun, Noah. Danke Dir!“ Am liebsten hätte Aurie Noah umarmt. Aber wie umarmt man einen Engel?
Noah lachte vergnügt. Natürlich hatte er bemerkt, woran Aurie dachte. „Deine Dankbarkeit in Deinem Herzen und Deine tiefe Liebe sind eine Form der Umarmung.“ Aurie hatte wieder das Gefühl, als würde Noah ihr über den Kopf streicheln, obwohl er sie nicht berührte. Er lächelte sie an und war im nächsten Moment verschwunden.
Aurie dachte noch eine Weile über das nach, was Noah ihr heute beigebracht hatte. Dann schlenderte sie zurück zum Haus und pfiff dabei fröhlich vor sich hin. Sie freute sich auf das gemeinsame Abendessen mit ihren Eltern, bei dem sie mit ihnen sprechen konnte.
[1]
Hawaiianische Atemtechnik, Piko-Piko Atmung. Piko bedeutet auf Hawaiianisch „Spitze“ oder „Punkt“.
[2] Daskalos In: Markides, K. C. (2004). Der Magus von Strovolos. Die faszinierende Welt eines spirituellen Heilers. Darmstadt: Schirner Verlag.
© Sara Hiebl