Aurie und das Spiel mit dem Engel

 

 

Aurie hatte fleißig ihr Licht-Ei geübt. Sie aktivierte es mittlerweile ganz bewusst morgens im Bett, bevor sie aufstand, und konzentrierte sich nochmal darauf, bevor sie dann die Schule betrat. Jetzt konnte sie es dort wieder besser aushalten, auch wenn die Streitereien noch da waren und sie den Hass und die Angst wahrnehmen konnte. Aber sie hatte nicht mehr das Gefühl, dass es ihr die Luft zum Atmen nehmen würde. Sie konnte besser spüren, wo sie sich wohl fühlte und ging zum Beispiel weg, wenn sie merkte, dass ihr eine Streiterei zu viel wurde. Sie spielte mehr mit den Kindern, bei denen es ihr gerade gut ging. Das war nicht jeden Tag gleich. Und sie merkte, dass sie in der Schule auch wieder lachen konnte und dass das wiederum den anderen Kindern guttat.

 

Seit der Zeit, seitdem sie Noah, ihren Schutzengel, unter ihrem Apfelbaum getroffen hatte, hatte sie immer wieder seinen liebevollen Blick gespürt. Wenn sie sich allerdings umgesehen hatte, konnte sie ihn nirgendwo entdecken. Das machte sie ein bisschen traurig, denn es war so wunderschön ihn anzusehen. Und vor allem tat es ihr unglaublich gut, diesen tiefen Frieden in sich zu spüren, den er ausstrahlte, wenn er da war.

 

In den letzten Tagen merkte Aurie, wie die Sehnsucht danach, Noah wieder zu treffen, in ihr immer größer wurde. Noah hatte ja gesagt, der Wunsch muss ganz tief aus ihrem Herzen kommen, damit es funktioniert, ihn wieder zu treffen.

An einem Nachmittag, als sie richtig große Sehnsucht danach hatte ihn zu sehen, ging sie wieder in den Garten ihrer Großmutter zu ihrem Apfelbaum und setzte sich darunter. Die Sonne wärmte ihr Gesicht und sie lehnte sich an den Stamm. Sie blinzelte in die Sonne und wartete darauf, dass etwas passierte. Und dabei schlief sie ein. Irgendwann erwachte sie, weil sie merkte, dass jemand sie ansah. Sie schlug die Augen auf und war überwältigt vor Freude: Vor ihr saß Noah und lächelte sie gutmütig an. Er strahlte in seinem leuchtenden und fließenden Gelb-Orange und Aurie merkte, wie sie von tiefem Frieden erfüllt wurde, während sie ihn ansah.

„Hallo Aurie.“

Wie wunderschön es war, wieder seine Stimme zu hören! Aurie lächelte glücklich.

„Ich bin so froh, dass Du wieder da bist! Ich hatte schon ein bisschen Bammel, dass es nicht nochmal klappen würde.“

„Dein Herz war voller Vertrauen, sonst könntest Du mich jetzt nicht sehen.“ antwortete Noah gutmütig.

„Ist das eine Voraussetzung, um Engel sehen zu können?“ fragte Aurie.

„Ja.“

„Und wenn ich Vertrauen habe, dann funktioniert das immer?“ wollte Aurie wissen.

Noah lachte fröhlich. „Nicht ganz. Es braucht schon noch ein bisschen mehr.“

„Kannst Du mir mehr dazu erzählen, wie man es schafft, mit seinem Schutzengel zu reden? Wie gesagt, ich kenne niemanden sonst, der Engel sehen kann. Zumindest hat mir noch niemand davon erzählt. Ich kenne nur Leute, die über Engel sprechen oder zu ihnen beten, so wie meine Großmutter. Ich bin mir aber nicht sicher, ob sie tatsächlich wissen, dass es Engel wirklich gibt.“

 

„Kennst Du die Aufgabe der Schutzengel, Aurie?“ fragte Noah.

„Meine Großmutter sagt, jedes Kind hat einen Schutzengel und der passt immer auf einen auf.“

„Das ist richtig Aurie.

Dein Schutzengel weicht Dir für keine Sekunde von der Seite.

Weil Du ein Funke Gottes bist und Deine Seele vollkommen ist, hast Du einen Schutzengel, der Dich hier auf der Erde begleitet und auf Dich Acht gibt.

Dein Schutzengel liebt Dich bedingungslos. Auch wenn Dir ein Fehler passiert, liebt er Dich weiter und hilft Dir, daraus zu lernen. Er liebt Dich, so wie Du bist.

Dein Schutzengel kann eine menschliche Gestalt annehmen, weil Dir das vertraut ist und Du Dich dann geborgen fühlst.

Dein Schutzengel kann Dich viele Dinge lehren, um Dir zu helfen, das Leben zu bewältigen.

Dein Schutzengel erinnert Dich immer wieder daran, dass Ihr als Mensch die Schutzengel der Natur und der Tiere seid.“

 

„Ein Funke Gottes?“ fragte Aurie und zog die Augenbraue hoch.

„Ja, ein Funke Gottes. Du bist einfach Liebe, Aurie. Wenn Du alles und jeden liebst, so wie Du Deine Großmutter liebst, aus Deinem ganzen Herzen, was passiert dann?“

„Ich gebe darauf acht, denn es ist mir wichtig.“ Aurie überlegte weiter. „Ich empfinde Liebe für jeden. Ich überlege, wie ich ihn unterstützen kann. Ich bin voller Freude über das, was er schafft.“

„Ganz genau, Aurie. Die Menschen haben nur vergessen, dass sie das sind – ein Funke Gottes. Und sie wissen nicht mehr, wie man diese reine Liebe lebt. Und deshalb haben sie auch den Kontakt zu ihrem Schutzengel verloren. Für Kinder ist es noch leichter, sich daran zu erinnern, wirklich zu lieben und wieder in Kontakt mit ihrem Engel zu kommen. Sie sind noch offen und voller Vertrauen.“

 

Aurie dachte darüber nach, was Noah gerade gesagt hatte.

„Ok. Aber wie komme ich denn jetzt in Kontakt mit meinem Schutzengel? Vor allem, wenn ich ihn nicht sehen kann, woher weiß ich dann, dass mein Schutzengel da ist?“ fragte Aurie.

„Aurie, erinnerst Du Dich daran, als ich Dir gesagt habe, dass ich nie gegen Deinen Willen handeln kann? Und dass ich Dich nur unterstützen kann, wenn Du mich darum bittest?“ fragte Noah ernst.

„Ja. Das hast Du mir beim letzten Mal gesagt. Da hast Du gemeint, dass der Wunsch, von Dir begleitet zu werden, ganz tief in meinem Herzen sein muss.“

„Ganz genau. Dieser tiefe Wunsch ist sehr wichtig, wenn Du in Kontakt mit Deinem Schutzengel kommen willst. Du musst es wirklich, wirklich wollen und ihn intensiv bitten, bei Dir zu sein. Außerdem musst Du darauf vertrauen, dass es passieren wird, aber ohne feste Vorstellung davon, wie es passieren wird.“

„Warum?“

„Weil es bei jedem Menschen unterschiedlich ist. Du hast zum Beispiel meinen Blick auf Dir gespürt. Manche beschreiben ein leichtes Kribbeln. Andere einen Lufthauch in ihrem Gesicht oder auf der Hand. Oder sie spüren innerlich Ruhe. Schutzengel versuchen dadurch, Dir zu zeigen, woran Du sie erkennst und ihre Anwesenheit spürst.

Wenn Du aber noch gar nicht weißt, wie Du die Anwesenheit Deines Schutzengels spüren kannst, dann spiel folgendes Spiel mit ihm:

 

Stell Dich vor den Spiegel und begrüße Deinen Schutzengel. Mach Dich bereit, gleich Deine Hand zu bewegen, diejenige, mit der Du schreibst. Betrachte Dich im Spiegel. Jetzt hebe Deine Hand und spreize Deine Finger, sodass sie sich nicht berühren. Betrachte Dich im Spiegel und stell Dir vor, Dein Spiegelbild ist Dein Schutzengel, der Dich ansieht und die Hand auf der gleichen Höhe hält, wie Du.

Jetzt bewege Deine Hand langsam auf Dein Spiegelbild zu, so nah, dass Du Deine Fingerspitzen im Spiegel berührst und die sanfte Berührung auf dem Spiegel wahrnehmen kannst. Bewege nun nacheinander Deine Finger und berühre mit ihnen die Fingerspitzen im Spiegel. Stell Dir dabei vor, dass es die Fingerspitzen Deines Schutzengels sind. Das musst Du ein paar Mal üben. Es kann sein, dass Du hier schon eine Empfindung wahrnimmst, die von Deinem Schutzengel kommt und mit der er Dir helfen will, zu spüren, dass er da ist.

 

Wenn Du das gut geübt hast, also Du Dir Deinen Schutzengel vor Dir wirklich gut vorstellen kannst, dann brauchst Du keinen Spiegel mehr.

Wenn Du jetzt Deinen Schutzengel bittest, sich vor Dich zu stellen, dann wird er es tun. Stell Dir vor, wie er vor Dir steht. Sobald Du Deine Hand hebst, wird Dein Schutzengel seine Hand genau vor Deine halten. Jetzt beginne, die Finger Deines Schutzengels zu spüren. Bitte ihn, dass er Deine Fingerspitzen sanft berührt. Einen Finger nach dem anderen. Immer kurz innehalten, dann der nächste.

Es kann sein, dass Du am Anfang noch nichts spürst. Das braucht wieder Training. Je öfter Du es machst, desto mehr wird Deine Wahrnehmung geschult. Sei wie ein Detektiv. Das kann ein Kribbeln sein oder ein elektrisches Gefühl im Finger (sehr schwach oder auch sehr stark), Wärme, Kühle, etwas Weiches, ein Lachen, ein Schmunzeln in Dir. Wenn Du etwas wahrnimmst, dann bedanke Dich dafür. Und dann bitte Deinen Schutzengel, noch einmal mit Dir zu spielen. Du kannst Deinen Schutzengel auch bitten, etwas sanfter oder vielleicht etwas deutlicher zu sein, damit Du seine Anwesenheit besser wahrnehmen kannst.

 

Spiele das Spiel, so oft Du kannst, um zu merken, dass Dein Schutzengel bei Dir ist, und um ihn genau zu erkennen. Denn Dein Schutzengel ist nur für Dich da. Je besser Du ihn spürst, desto mehr kann das Vertrauen zwischen Euch wachsen und er kann für Dich da sein, wenn Du ihn brauchst.“[1]

 

Aurie schwieg eine Weile, nachdem Noah ihr das Spiel fertig erklärt hatte. Sie fand die Vorstellung lustig. Sie wusste ja jetzt aus eigener Erfahrung, wie sie Noah wahrnehmen und erkennen konnte. Sie nahm sich vor, Julia, ihrer Freundin, von diesem Spiel zu erzählen und mit ihr auszuprobieren, wie es funktionierte.

 

„Noah, ich habe noch eine Frage. Wie unterhält man sich mit einem Engel?“

Noah lachte.

„Du kennst schon zwei Formen davon. Eine Form machst Du täglich mit Deiner Großmutter, seitdem Du auf der Welt bist. Du betest jeden Abend mit ihr, dass ich Dich nachts begleite und behüte.

Gebete sind eine Form der Unterhaltung mit Deinem Schutzengel.

Die zweite Form ist, konkrete Fragen zu stellen. Nur, wenn Du eine Frage stellst, kannst Du auch Antworten bekommen. Wir unterhalten uns jetzt im direkten Gespräch. Die Engel finden immer eine Möglichkeit, Dir eine Antwort auf Deine Fragen zukommen zu lassen. So kann es sein, dass Du jemanden triffst, der Dir die Antwort gibt, oder Du liest in einem Buch und findest dort die Antwort.“

„Welche Möglichkeiten gibt es noch?“

„Wenn Du zum Beispiel um ein Zeichen von Hoffnung bittest, dann hinterlassen Engel den Menschen oft Federn. Du kannst sie dann meist an ungewöhnlichen Orten finden, wo man normalerweise keine Federn findet. Die meisten Menschen bemerken diese jedoch nicht. Kinder in der Regel schon.“ Noah grinste.

„Schutzengel schicken Dir auch Gedanken. Dann ist es wichtig, darauf zu reagieren.“

„Wie meinst Du das?“ fragte Aurie.

„Erinnerst Du Dich, Aurie, als es letzte Woche dem einen Jungen aus Deiner Klasse so schlecht ging und Du in der Pause zu ihm gegangen bist und ihm Deinen Apfel angeboten hast?“ fragte Noah.

„Ja. Aber er wollte ihn nicht.“

„Das war auch nicht wichtig. Aber was ist dann passiert?“

„Er hat mich angelächelt. Und dann hat er mir von seiner Katze erzählt. Und ich ihm von meiner.“

„Und wie ging es ihm danach?“ wollte Noah wissen.

„Er war danach fröhlicher.“, antwortete Aurie. Sie überlegte. „Normalerweise habe ich mich nie mit diesem Jungen unterhalten.“

„Und warum hast Du es an diesem Tag getan?“ bohrte Noah nach.

„Ich hatte plötzlich das Gefühl, dass es wichtig ist, zu ihm zu gehen.“

Noah grinste breit und auf einmal begriff es Aurie: „Du hast mir den Gedanken geschickt, zu ihm zu gehen!“ Noah nickte.

„Deshalb ist es wichtig, dass Du darauf achtest. Denn manchmal bist Du derjenige, der das Zeichen der Engel übermitteln soll oder Du hast die Antwort auf eine Frage, die jemand gestellt hat oder kannst die Hilfe sein, um die jemand gebeten hat. Und je besser Du mit Deinem Schutzengel in Kontakt bist, desto besser kannst Du ihn auch wahrnehmen und auf ihn reagieren. Und desto besser kann er Dich auch Dinge lehren, die Dir helfen, im Leben zurecht zu kommen.“

„Das leuchtet mir ein.“ sagte Aurie. „Seitdem ich mich mit Dir unterhalte, habe ich schon viele wichtige Dinge gelernt.“ Sie lächelte Noah dankbar an.

 

„So meine Liebe.“ Noah erhob sich. „Jetzt hast Du heute wieder viel Neues erfahren und es ist wichtig, dass Du das jetzt wieder übst. Lerne in den nächsten Wochen, mit mir über diese Möglichkeiten im Kontakt zu sein.“

„Und wenn ich Dich wieder sehen will?“ fragte Aurie schnell.

„Der Tag wird kommen. Aber jetzt geht es wirklich erstmal darum, das gut zu üben, bevor ich Dir wieder etwas beibringen kann.“ Noah schickte ihr eine Art Luftkuss, worüber Aurie lachen musste. Sie spürte einen leichten Windhauch auf ihrer Wange. Wieder verschwand Noah hinter dem Apfelbaum und Aurie blieb noch eine Weile sitzen, um über das nachzudenken, was sie heute von Noah gelernt hatte. Plötzlich spürte sie den dringenden Wunsch in sich, zurück in die Küche zu ihrer Großmutter zu gehen und sie musste lachen, denn sie konnte Noahs Blick auf sich spüren.



[1] Übung nach Byrne, L. (2017). Engel berühren meine Fingerspitzen. 2. Auflage. München: Kailash Verlag.




© Sara Hiebl

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