Aurie und das Ego
Aurie saß unter ihrem Apfelbaum in der Sonne und war nachdenklich. Sie hatte sehr besondere Wochen hinter sich, wie sie fand.
Sie hatte mit ihrer Freundin Julia das Spiel mit dem Engel ausprobiert. Und es funktionierte tatsächlich! Es war eine lustige und sonderbare Erfahrung, denn man bekam mit der Zeit wirklich das Gefühl, das jemand vor einem steht. Julia musste immer kichern, sobald sie den Engel vor sich spürte.
Sie selbst konnte Noah durch das Spiel jetzt viel besser bei sich spüren. Darüber war sie sehr glücklich. Es half ihr auch an Tagen, an denen sie nicht so fröhlich war, dass sie ihn bei sich spüren konnte. Sie fühlte sich dadurch sicherer und weniger allein.
Vor allem hatte sie aber in den letzten Wochen versucht darauf zu hören, wenn Noah ihr ein Zeichen schickte, dem auch zu folgen. Das gelang ihr nicht immer. Manchmal war sie einfach zu sehr in Gedanken und bekam es dann nicht mit. Aber es war ihr doch ziemlich oft gelungen und sie hatte interessante Erfahrungen dadurch gemacht. Darüber dachte sie in diesem Moment nach.
So war sie an einem sehr stürmischen Tag plötzlich in ihre Gummistiefel gehüpft, weil sie das Gefühl hatte unbedingt auf die Straße zu müssen. Dort stand sie dann in der Hofeinfahrt und wartete. Als sie schon fast wieder hinein wollte (es war schon sehr stürmisch), da bog eine alte Frau um die Ecke und in diesem Moment riss ihr ihre Einkaufstüte und alle Einkäufe purzelten über die Straße. Aurie war sofort hingerannt und hatte ihr geholfen, die Sachen wieder einzusammeln. Sie hatte ihr die Sachen nach Hause tragen geholfen (die alte Frau wohnte fast um die Ecke) und die alte Dame hatte sich so sehr bedankt. Bei diesem Wetter hatte sie nicht erwartet, dass sie jemand anderen auf der Straße treffen würde.
An einem anderen Tag saß sie in der Schule und lauschte der Lehrerin. Da hatte sie das Gefühl, dass sie dringend aufs Klo gehen sollte – obwohl sie eigentlich gar nicht musste. Neugierig machte sie sich auf den Weg. Auf der Toilette hörte sie ein lautes Schluchzen aus der letzten Ecke und da saß ein sehr verzweifeltes kleines Mädchen. Aurie setzte sich zu ihr auf den Boden, gab ihr ihr Taschentuch und fragte, ob sie ihr helfen könnte. Das Mädchen erzählte ihr von einem großen Streit mit ihrem Bruder und dass sie sich jetzt nicht nach Hause traue. Aurie nahm sie in den Arm und als sich das Mädchen etwas beruhigt hatte, bot sie ihm an, es nach der Schule nach Hause zu begleiten. Das Mädchen nickte heftig und dankbar.
Aurie war sehr dankbar, dass sie auf diese Weise den Engeln und somit auch anderen Menschen helfen konnte, wenn sie aufmerksam auf die Zeichen hörte.
An einem Regentag, als sie in die Schule ging, hörte sie plötzlich wie Noahs Stimme „Spring zur Seite!“ rief. Sie war jedoch so überrascht, dass sie einfach nur stehen blieb. Und im nächsten Moment war sie patschnass – ein Auto war mit großem Tempo durch die Pfütze direkt neben ihr gefahren. Nachdem ihr Ärger darüber verflogen war, musste sie lachen. Das Hören auf diese Zeichen brauchte definitiv noch weiter Übung.
Jetzt wünschte sie sich sehr, dass Noah wieder auftauchen würde. Sie hatte nämlich ein Thema, mit dem sie einfach nicht klar kam. Ihre Freundin war plötzlich umgezogen und war jetzt einfach nicht mehr da. Aurie seufzte schweren Herzens. Sie wollte das einfach nicht akzeptieren und wollte, dass es wieder anders war. Ihre Gedanken wurden schwer, als sie daran dachte, dass der Platz ihrer Freundin in der Schule auch morgen wieder leer sein würde. Sie hing ihren traurigen Gedanken nach, als sie plötzlich Noahs Stimme hinter sich hörte und aufblickte.
„He, wer wird denn an so einem schönen Tag so missmutig sein?“ Noah lächelte freundlich und setzte sich wie immer vor ihr auf den Rasen.
Aurie war wieder überwältigt von seinem wunderbar gelb-orange leuchtenden Gewand und sie spürte sofort wieder den tiefen Frieden, den er ausstrahlte.
„Ich hab Dich lange nicht mehr gesehen!“ schleuderte sie ihm entgegen.
„Soll ich wieder gehen?“ erwiderte Noah friedlich.
„Oh nein!“ Aurie blickte ihn entsetzt an und merkte, dass sie Noah gegenüber unfreundlich gewesen war. Sie hatte ihre schlechte Laune an ihm ausgelassen. Das tat ihr leid.
„Es tut mir leid, Noah. Ich habe schlechte Laune.“
„Weil Deine Freundin weggezogen ist?“ fragte Noah.
„Woher...“ Aurie verstummte. Ihr fiel ein, dass Noah ja immer bei ihr war und nie von ihrer Seite wich. Natürlich wusste er, warum.
„Ich möchte, dass sie wieder zurückkommt. Ich möchte, dass sie morgen in der Schule wieder auf ihrem Platz sitzt und ich in der Pause mit ihr spielen kann. Ich möchte nicht, dass sie weggezogen ist!“ sagte Aurie trotzig und wütend und sie verschränkte ihre Arme vor sich.
Noah betrachtete sie still.
„Es ist unfair, dass ihre Eltern einfach umgezogen sind!“ platzte es weiter aus Aurie heraus.
„Aurie, wieso wehrst Du Dich so dagegen? Es ist schon längst passiert.“ fragte Noah ruhig.
„Weil ich traurig bin, dass sie weg ist. Und weil ich sie vermisse. Und weil ich nicht will, dass sie wo anders wohnt!“
„Will sie das denn?“
Aurie wurde still. Darüber hatte sie in ihrer Wut und Traurigkeit noch gar nicht nachgedacht. „Ich glaube schon, dass sie mich und auch die anderen vermisst. Aber sie hat sich gefreut, als sie umgezogen sind. Jetzt wohnt sie näher bei ihrer Oma.“
„Würdest Du Dich freuen, wenn Du näher bei Deiner Oma wohnen kannst?“
„Selbstverständlich! Ich würde nie von meiner Großmutter wegziehen wollen!“
„Freust Du Dich dann für Deine Freundin?“
„Jetzt schon.“ sagte Aurie kleinlaut. „Aber ich vermisse sie immer noch.“
„Ist das Vermissen ein anderes Gefühl als die Wut vorhin?“ fragte sie Noah.
„Oh ja! Die Wut vorhin hat mich fuchsteufelswild gemacht. Das Vermissen tut einfach nur ein bisschen im Herzen weh.“
„Schau Aurie, jetzt denkst Du auch an Deine Freundin und es ist ein anderes Gefühl. Vorhin hast Du nur an Dich gedacht und Dein Ego war sehr stark. Es wollte keine Veränderung und hat sich gegen alles gewehrt. Aber im Widerstand mit etwas zu sein, was schon längst passiert ist, ist völlig unnütz! Das ist verrückt! Schau, was die Wut mit Dir gemacht hat.“
Aurie blickte betroffen auf ihre Füße. „Ich war plötzlich sehr wütend auf meine Freundin. Als hätte sie das mit Absicht gemacht, um mir weh zu tun. Die Wut ist auch immer größer geworden. Oh je. Ich war gar keine gute Freundin mehr.“
„Es ist wichtig, Aurie, nicht nur an uns zu denken, sondern immer auch für die anderen. Dann ist das Ego klein. Dann ist mehr Leichtigkeit, Freude und Miteinander da. Wenn das Ego groß ist und nur sich selbst in den Mittelpunkt stellt, dann geht es in den Krieg, um nichts zu verlieren. Der Krieg hat aber immer Auswirkung auf Dich selbst und auf alle anderen. Schau, Deine Wut hätte Eure Freundschaft zerstören können.“
„Ich finde es aber trotzdem sehr schade, dass sie nicht mehr hier wohnt.“ erwiderte Aurie kleinlaut.
„Das ist auch völlig in Ordnung. Du kannst etwas schade finden. Du kannst etwas doof finden. Oder Du kannst etwas gut finden. Aber kuck mal, jetzt, in diesem Moment, findest Du es schade, dass Deine Freundin nicht mehr hier wohnt. Aber wehrst Du Dich innerlich noch so dagegen, wie vorhin?“ fragte Noah.
„Nein. Es ist in Ordnung, dass sie weggezogen ist. Ich finde es eben nur schade.“ antwortete Aurie.
„Siehst Du: kein Widerstand. Nur ein Gefühl. Wenn Du jetzt Dein Gefühl spürst, das Vermissen. Was kannst Du dann jetzt tun?“ frage Noah weiter.
„Ich kann sie anrufen und über Video mit ihr spielen. Dann sehe ich auch, wie ihr neues Zimmer aussieht!“ Aurie strahlte plötzlich. „Ich kann ihr auch einen Brief schreiben und ein Bild malen. Dann freut sie sich bestimmt, wenn sie die Überraschung aufmacht. Und ich kann an sie denken und ihr ganz viel Liebe in meinem Herzen schenken. Das macht dann vielleicht die Wut, die ich auf sie hatte, wieder ein bisschen gut.“
„Das tut es ganz bestimmt.“ pflichtete ihr Noah bei. „Siehst Du, Aurie, jetzt wo Du den Widerstand losgelassen hast und Dein Gefühl gespürt hast, konntest Du gut erkennen, was Du tun kannst. Wenn Du im Widerstand bist, ist das nicht möglich. Der Widerstand macht es immer schwer.“
„Ja, jetzt ist mein Herz viel leichter.“ atmete Aurie auf.
„Es wird immer wieder passieren, dass sich Dein Ego einmischt, Aurie. Du erkennst an der Schwere in Deinem Herzen, wenn Du im Widerstand bist. Dann überlege: Kannst Du es gerade ändern? Kannst Du die Situation verlassen? Wenn nicht, dann nimm die Situation an, akzeptiere sie. Lass den Widerstand los, so wie gerade eben. Schau nach Deinem Gefühl: wie fühlst Du Dich in diesem Moment? Wie geht es Dir damit? Und der nächste Schritt: Was kann ich jetzt, in diesem Moment, tun? Und dann wird die Leichtigkeit zurückkommen.“[1]
„Danke, Noah. Du hast mir sehr geholfen! Ich wusste nicht, dass ich es mir selbst so schwer gemacht habe.“ Aurie strahlte Noah erleichtert an.
„Und vergiss nicht: denke nicht nur für Dich, denke auch für die anderen. Das ist jetzt sehr wichtig. Du bist nicht nur für Dich verantwortlich, sondern auch dafür, wie sich Dein Tun auf andere auswirkt. Jetzt bekommt Deine Freundin wieder Liebe aus Deinem Herzen. Sei Dir bewusst, was Du in der Welt auslöst.“ Noah erhob sich. „Und ob Du etwas, das schon passiert ist, gut oder schlecht findest – lass den Widerstand los. Schau, was Dein Gefühl ist. Schau, was zu tun ist.“
„Noah!“ rief Aurie und blickte zu ihm auf. Er hielt inne. „Danke!“ Aurie war wirklich erleichtert.
Noah lächelte sie an und ging an ihr vorbei wieder um den Apfelbaum. Und dabei strich er ihr – so fühlte es sich an, sie konnte es kaum glauben – über den Kopf.
Aurie war sehr erleichtert und lächelte glücklich. Sie versuchte ganz bewusst die Liebe für ihre Freundin aus ihrem Herzen zu ihr zu schicken. Sie stellte es sich wie eine helle Lichtbahn vor, die jetzt die dunkle Bahn der Wut von vorhin überstrahlte. Innerlich entschuldigte sie sich bei ihrer Freundin. Als sie merkte, dass es ihr leichter ums Herz wurde, stand sie auf und hopste ins Haus zurück. Jetzt wollte sie ihre Freundin anrufen und endlich per Video ihr Zimmer sehen!
[1] Tolle, E. (2008). Jetzt! Die Kraft der Gegenwart. 19. Auflage. Bielefeld: J. Kamphausen Verlag & Distribution GmbH.
© Sara Hiebl