Aurie und die Dankbarkeit
Aurie saß unter ihrem Apfelbaum und hatte die Augen geschlossen. Sie machte die Übung, die ihr Noah bei ihrer letzten Begegnung gezeigt hatte. Inzwischen gelang es ihr sehr gut, sich schnell auf ihren Atem zu konzentrieren und diesen vom Kopf bis in die Fußsohlen fließen zu lassen. Es half ihr, wieder Ruhe zu gewinnen, wenn sie sich aufregte, oder in der Schule wegen einer Prüfung gestresst war. Um ihren inneren Energiekörper zu spüren, brauchte sie noch etwas mehr Ruhe. Deshalb ging sie manchmal aufs Klo, auch wenn sie gar nicht musste, um sich dort auf ihren Energiekörper zu konzentrieren und sich zu spüren. Oder sie setzte sich im Pausenhof in eine ruhige Ecke, um dort ihre Übung zu machen. Das gab ihr wieder Energie und sie konnte dann auch anstrengendere Tage besser schaffen. Sie war dankbar, dass Noah ihr diese Übung gezeigt hatte, denn sie konnte dadurch viel besser ihren Stress regulieren.
„Dankbarkeit ist ein gutes Stichwort.“
Aurie öffnete ihre Augen und sah Noah vor sich im Gras sitzen, der sie angrinste. Sofort spürte sie wieder die tiefe Ruhe, die sich in ihr ausdehnte, wenn sie Noahs Strahlen beobachtete.
„Darüber wollte ich heute mit Dir sprechen. Denn Dankbarkeit ist eine weitere Voraussetzung, wenn Du Deine Vision ins Leben bringen willst.“ erklärte Noah.
„Findest Du, dass ich nicht dankbar bin?“ wollte Aurie wissen.
„Doch, sehr wohl. Es geht allerdings darum, dass Du lernst die Dankbarkeit ganz bewusst einzusetzen und Dir ihre Energie zu nutzen zu machen.“
„Wenn ich abends mit meiner Großmutter bete, dann fragt sie mich immer, was heute gut in meinem Tag war und wofür ich dankbar bin.“ erzählte Aurie.
„Ein tolles Ritual. Und was macht das mit Dir, wenn Du Dir das nochmal bewusst machst?“ frage sie Noah.
Aurie überlegte kurz. „Ich denke nochmal über den Tag nach. Und ich merke, dass ich selbst an schwierigen Tagen immer etwas finde, wofür ich dankbar sein kann. Und wenn es „nur“ die Kuschelzeit mit Mama am Morgen war oder die Zeit für mich unter meinem Apfelbaum. Es muss nicht immer etwas Großartiges sein.“ Aurie schwieg einen Moment. „Ich finde, ganz oft sind es viele Kleinigkeiten, die meinen Tag am Ende wertvoll machen.“
„Sehr gut, Aurie. Genau so ist es. Es geht darum, das Gute in jedem Tag zu sehen, dass Dir das Leben bereits gibt. Die Anerkennung der Fülle, die bereits existiert, ist die Grundlage für weitere Fülle in Deinem Leben. Indem Du den Reichtum des Lebens um Dich herum bewusst wahrnimmst und sie in Dankbarkeit anerkennst, weckst Du die in Dir schlummernde Fülle, die pure Energie des Lebens.“[1] erklärte ihr Noah.
Aurie dachte darüber nach, was Noah gesagt hatte. „Meinst Du mit der Fülle, die schon da ist, die Kleinigkeiten, für die ich dankbar bin und die meinen Tag wertvoll machen?“
„Ganz genau. Dass Du Dich an einem Tag über die Sonne und am nächsten Tag genauso über den Regen freuen kannst, dass Du die Schönheit einer Blume siehst, die Dir begegnet, dass Du bemerkst, dass Paul Dir gegenüber freundlich war… All das ist Fülle, die Dich bereits umgibt.“ bestätigte sie Noah.
„Das ist ein schönes Gefühl.“ sagte Aurie.
„Beschreib mir das Gefühl, dass die Dankbarkeit in Dir auslöst.“ forderte Noah sie auf.
„Sie zaubert mir ein Lächeln aufs Gesicht und ich fühle mich sehr zufrieden. Ich habe nicht das Gefühl, dass mir etwas fehlt, auch wenn es ein schwieriger Tag war. Ich merke, dass ich den Widerstand gegen Dinge, die ich nicht ändern kann, wie zum Beispiel den Regen, loslassen kann. Ich fühle mich dann innerlich friedvoll, auch, wenn ich vielleicht nicht nur glücklich mit meinem Tag war.“ Aurie grinste Noah an. Sie freute sich darüber, dass sie mehr Leichtigkeit in ihrem Leben empfand, seitdem ihr Noah das mit dem Widerstand und dem Ego erklärt hatte. Sie konnte den Widerstand noch nicht immer loslassen, aber es wurde ihr öfter bewusst, wenn sie im Widerstand war, und dann konnte sie besser mit der Situation umgehen.
Noah lächelte Aurie an.
„Und dadurch, dass Du dem Leben weniger mit Widerstand begegnest, kommst Du in den Zustand der Anmut, der durch bewusste Dankbarkeit entsteht, und Leichtigkeit und Unbeschwertheit dehnen sich in Dir aus. Du bist nicht mehr abhängig von Dingen, die Dein Verstand als gut oder schlecht beurteilt. Wenn es regnet, dann regnet es.“[2]
„Auch, wenn ich die Sonne generell lieber habe.“ schmunzelte Aurie. „Allerdings liebe ich genauso das Glitzern in den Regentropfen, wenn nach einem Gewitter die Sonne wieder zu scheinen beginnt.“
„Und dieser Fokus ist sehr wichtig, Aurie. Wenn Du bewusst dankbar für das bist, was Du bereits hast und womit Dein Leben erfüllt ist, wirst Du mehr davon bekommen. Fokussierst Du Dich in Gedanken auf das, was Dir fehlt, führt es dazu, dass Du Mangel leidest. Das ist das Gesetz der Anziehung und des Gebens und Nehmens. Du lebst das Gefühl des Mangels, Du wirst Mangel erfahren. Du lebst das Gefühl der Fülle und bist dankbar, für das, was Du hast, und Du wirst Fülle erfahren. Schon Jesus hat das gesagt: „Gebt, so wird Euch gegeben.“
Wenn Du das Gefühl hast, dass alle Welt unfreundlich zu Dir ist, dann beginne ein Lächeln in die Welt zu tragen. Sobald Du beginnst zu geben, kannst Du auch das Gleiche empfangen. Denn Du kannst nicht bekommen, was Du nicht selbst bereit bist zu geben. Was Du in die Welt gibst bestimmt, was Du zurückbekommst.“ erklärte ihr Noah.
Aurie dachte darüber nach.
„Heißt das, dass ich die Freundlichkeit von Paul nur erfahren kann, weil ich begonnen habe, ihm freundlich zu begegnen? Und weil ich die Momente mit ihm schätze, in denen er sich anders verhält?“ fragte Aurie nach.
„Ja. Das ist das Gesetz von Geben und Nehmen.“ bestätigte sie Noah.
„Es gibt zwei wichtige Aspekte der Dankbarkeit, die es gilt täglich zu leben.
Einen davon hast Du schon als Ritual mit Deiner Großmutter in Deinen Tag eingebaut: Dir jeden Abend bewusst zu werden, für was in Deinem Tag Du dankbar bist.
Du kannst natürlich auch in dem Moment, in dem Du etwas Tolles erlebst, ganz bewusst dankbar dafür sein.
Wenn Du die Schönheit einer Blume bewunderst: sei in diesem Moment dankbar dafür. Wenn Du die Sonne auf Deiner Haut spürst und glücklich durch den Garten tanzt: sei dankbar. Wenn Du das Wasser der Dusche auf Deiner Haut spürst: sei dankbar. Wenn Du einen Unfall hattest und glimpflich davongekommen bist: sei dankbar, dass der Schaden nur so gering war.
Es gibt viele Möglichkeiten, die Dankbarkeit bewusst zu leben.
Dazu gehört auch, dass Du lernst dankbar zu sein, wenn Du etwas NICHT bekommen hast, und sich im Nachhinein herausstellt, dass es besser so ist.“ erklärte Noah.
„Wie meinst Du das denn!“ rief Aurie. „Wie soll ich denn dankbar sein für etwas, dass ich nicht bekommen habe.“
Noah grinste.
„Erinnerst Du Dich, Aurie, wie enttäuscht Du vor Kurzem warst, weil Du die Reitbeteiligung, zu der ihr 1 Stunde hättet fahren müssen, nicht bekommen hast?“
„Selbstverständlich! Das war so bescheuert!“ schimpfte Aurie.
„Und dann hast Du 1 Woche später das Angebot für eine Reitbeteiligung direkt bei Dir um die Ecke bekommen und Du kannst sogar zu Fuß dort hingehen.“ erinnerte sie Noah.
„Ja, das ist mega genial!“ Aurie strahlte.
„Siehst Du Aurie, und genau dafür kannst Du dankbar sein. Hätte die erste Reitbeteiligung Euch nicht abgelehnt, hättest Du nicht die Chance gehabt, das Angebot bei Dir um die Ecke anzunehmen. Im ersten Moment war es nicht toll, aber jetzt hast Du etwas viel Besseres bekommen.“
„Das stimmt.“ Aurie wurde nachdenklich.
„Und dieser Aspekt der Dankbarkeit ist genauso wichtig. Er wird nur häufig vergessen.
Sei dankbar dafür, dass Du die erste Reitbeteiligung nicht bekommen hast, weil Du dadurch die Möglichkeit bekommen hast bei Dir um die Ecke zu reiten.“ wies Noah sie an.
Aurie merkte tatsächlich wie dadurch der Unmut über die Absage der ersten Reitbeteiligung verschwand. Ohne, dass es ihr bewusst war, hatte sie Groll dagegen gehegt, obwohl sie am Ende etwas Besseres bekommen hatte. Wie gut, dass Noah ihr das bewusst gemacht hatte!
„Der zweite Aspekt ist:“ erklärte Noah nach einer kleinen Pause weiter. Du kannst auch morgens schon nach dem Aufstehen überlegen: Für was in meinem Tag heute kann ich dankbar sein? Worauf freue ich mich?
Du wirst dann mit einer völlig anderen Energie in den Tag starten und sie wird Dich durch den ganzen Tag begleiten. Probier es mal aus.“
Noah schwieg kurz und betrachtete Aurie.
Sie strahlte ihn glücklich an. Wie dankbar war sie doch, dass sie Noah treffen durfte!
„Der zweite Aspekt, den es täglich zu leben gilt, ist folgender: Es ist wichtig, dass Du Deine Fülle und Dankbarkeit auch nach außen hin fließen lässt und diese Energie teilst.“ erklärte ihr Noah weiter.
„Was meinst Du damit?“ wollte Aurie genauer wissen.
„Was tust Du denn, wenn Du Fremden begegnest?“ fragte sie Noah.
„Ich lächle sie eigentlich immer an. Ich will meine Freude mit ihnen teilen.“ antwortete Aurie.
„Ganz genau. Du lässt Deine Energie bewusst zu dem anderen fließen und dadurch wirst Du zum Gebenden.
Hier lebst Du im Übrigen schon einen Teil Deiner Vision.“ Noah zwinkerte ihr zu, als er ihr das sagte.
„Es ist wichtig, sich in jeder Situation immer wieder zu fragen: Was könnte ich hier geben? Wie kann ich dem anderen dienen? Wie kann ich dem anderen in dieser Situation von Nutzen sein?[3]
Das kann ein Lächeln sein oder dem anderen die Türe aufzuhalten. Es kann sein, dass Du jemandem Geld gibst. Es kann aber auch sein, dass Du jemandem etwas nicht gibst und ihm dadurch hilfst. Zum Beispiel bei Paul: Du sagst ihm immer wieder sehr deutlich, was Du nicht in Ordnung findest. Das hilft ihm viel mehr als davor, als Du Deinen Groll über ihn nur still in Dir getragen hast.“
Darüber war Aurie erstaunt. Ihr war nicht bewusst, dass sie auch von Nutzen sein konnte, indem sie anderen etwas NICHT gab.
Noah grinste. „Das, was die Menschen sich wünschen, ist nicht immer das, was das Beste für sie ist. Sie denken oft nicht bewusst darüber nach, was es für sie bedeutet und welche Auswirkungen es auf andere hat. Daher kann es auch manchmal hilfreich sein, eben nicht zu helfen.
Ein Beispiel: Wenn Du etwas unbedingt selbst schaffen möchtest, auch wenn es Dir schwerfällt, und jemand anders kommt und nimmt es Dir ab, weil er es leichter oder schneller kann. Wie fühlst Du Dich dann?“
„Ich finde sowas unmöglich und ärgere mich dann immer sehr darüber!“ antwortet Aurie.
„Siehst Du. Auch, wenn es gut gemeint war, war Dir der andere in diesem Moment nicht von Nutzen. Deshalb ist es immer wichtig, sich diese Fragen ganz bewusst zu stellen, bevor man etwas tut.“ erklärte Noah.
Das leuchtete Aurie jetzt ein.
„Es ist wichtig, das was Du geben kannst, wenn es in dieser Situation von Nutzen ist, auch zu geben. Dann lebst Du die Fülle und gibst sie weiter. Und indem Du die Fülle lebst, wird Dir Vieles zufließen. Das ist wieder das Gesetz der Anziehung. Die Fülle kann nur zu denen kommen, die sie schon haben und geben.
Das Leben fließt dann mit Leichtigkeit. Du wirst Leute in Deinem Leben treffen, Dinge erleben und alles haben, was Du brauchst. Du wirst es genießen und den Dingen wiederum mit Dankbarkeit begegnen.
Aber Du wirst nicht mehr davon abhängig sein, ob Du etwas hast oder nicht. Wenn etwas vorbei ist, lebst Du nicht das Gefühl des Mangels, Du bist nicht im Widerstand. Dinge kommen und gehen. Das ist der Zyklus des Lebens. Du bleibst aber in Dir friedvoll, so wie Du vorhin gesagt hast, auch wenn Du vielleicht nicht glücklich in einem Moment bist.“
Aurie antwortete nachdenklich: „Ja, ich verstehe, was Du damit meinst. Ich bin nicht glücklich, dass meine Freundin weggezogen ist. Aber in mir tobt kein ständiger Sturm mehr, seitdem ich mich innerlich nicht mehr dagegen wehre, dass es so ist. Und wir haben echt lustige Zeiten, wenn wir uns über Video unterhalten. Das wäre nicht möglich, wenn ich weiter zornig auf sie wäre, nur weil sie nicht mehr da ist. Dafür bin ich dankbar.“ Aurie lachte.
Noah musste lachen.
„Verankere diese beiden Aspekte der Dankbarkeit in Deinem Alltag. Dein Ritual mit Deiner Großmutter, abends zu überlegen, für was Du in Deinem Tag dankbar bist, ist wirklich schon eine tolle Sache! Und prüfe immer wieder: Was kann ich geben? Wie kann ich dem anderen in dieser Situation von Nutzen sein? Denn der Kreislauf von Geben und Nehmen will immer geschlossen sein. Wenn Du in Fülle gibst, wirst Du auch mit vollen Armen bekommen. Halte Deinen Blick auf dem, was Du hast und wofür Du dankbar bist.“
Noah erhob sich und tat so, als würde er sein Gewand glattstreichen.
Aurie lachte und strahlte ihn an.
„Vielen Dank, Noah, dass Du mir die Bedeutung der Dankbarkeit erklärt hast. Jetzt freue ich mich noch mehr auf mein Abendritual mit Großmutter. Und ich werde ausprobieren, wie es ist, schon morgens mit Dankbarkeit in den Tag zu starten.“
„Vielen Dank für Deine Zeit, liebe Aurie.“ Noah machte eine ulkige Verbeugung vor Aurie und verschwand.
Aurie lehnte noch eine Weile glücklich an ihrem Apfelbaum und musste noch ein paar Mal über Noahs lustige Verbeugung lachen. Sie dachte darüber nach, wie dankbar sie war. Auch, dass sie zum Beispiel gerade keinen Krieg erfahren musste. „Manche Dinge werden einem auch erst bewusst, wenn man merkt, dass es nicht selbstverständlich ist.“ dachte sie in diesem Moment.
Dann stand sie auf und hüpfte zurück zum Haus. Sie wollte zu ihrer Großmutter in die Küche, die gerade Erdbeerkuchen backte, sie dolle umarmen und ihr sagen, wie dankbar sie ist, dass sie ihre Oma ist.
[1]
Eckhart Tolle (2015). Eine neue Erde: Bewusstseinssprung anstelle von Selbstzerstörung. 9. Auflage. München: Arkana Verlag.
[2] Eckhart Tolle (2001). Practising the power of now. A guide to spiritual enlightenment. London: Yellow Kite Books.
[3]
Eckhart Tolle (2015). Eine neue Erde: Bewusstseinssprung anstelle von Selbstzerstörung. 9. Auflage. München: Arkana Verlag.
© Sara Hiebl