Aurie und die Gedanken
Das mit dem Widerstand loslassen war gar nicht so einfach und Aurie musste es wirklich üben. Es passierte ja auch so viel, das Widerstand in ihr auslöste. So gab es zum Beispiel diesen Jungen, Paul, in ihrer Klasse. Sie hatte eine richtige Wut gegen ihn, weil er sich einfach immer unmöglich verhielt, er war ein richtiger Rüpel! Aurie merkte schon morgens, wenn sie ihn das erste Mal sah, dass sie innerlich in Widerstand und Abwehr gegen ihn ging. Nach dem Gespräch mit Noah wurde ihr das sehr bewusst.
Als sie Paul das nächste Mal in der Garderobe sah, versuchte sie bewusst das Gefühl zu spüren, das er in ihr auslöste. Es war Angst. Das erstaunte sie, weil sie doch an sich nicht ängstlich war. Sie dachte darüber nach und merkte, dass sie gar nicht Angst um sich selbst hatte, sondern Angst, dass er wieder jemandem in der Klasse weh tun könnte. Sie stellte fest, dass sie diese Tatsache jedoch nicht ändern konnte – Paul war eben, wie er war. Warum auch immer. Sie konnte die Situation auch nicht verlassen – er war nun mal in ihrer Klasse. Als sie darüber nachdachte, was sie selbst tun konnte, stellte sie fest, dass sie ihm noch nie gesagt hatte, was sie über sein Verhalten dachte. Sie hatte bislang nur immer still ihre Wut auf ihn gerichtet. Jetzt merkte sie, dass das ihm gegenüber nicht fair war. Er hatte ihre Wut sicherlich gespürt, obwohl sie mit ihm direkt nie einen Streit hatte.
Sie nahm ihren Mut zusammen und sprach ihn an. „Du Paul, weißt Du, ich habe gar keine Ahnung, ob Du ein toller Kerl bist oder nicht. Den anderen gegenüber verhältst Du Dich oft so unmöglich. Ich weiß gar nicht, wen Du als nächstes ärgerst. Und mir ist auch nicht klar, warum Du das tust.“ Er hielt inne und sah sie irritiert an. „Äääähhh…. Jaaaaa…“ Er schaute betreten auf seine Füße. Dann sah er sie kurz an und verließ die Garderobe. Den Rest des Tages verhielt er sich erstaunlich ruhig und sie merkte, wie er sie immer wieder ansah. Am nächsten Tag gab es wieder Ärger in der Klasse mit ihm. Sie fand sein Verhalten wirklich nicht gut und das äußerte sie auch im Klassenrat. Aber sie merkte jetzt, dass sich etwas verändert hatte. Als sie darüber nachdachte, nahm sie wahr, dass sich ihre Wut gegen ihn geändert hatte. Sie lehnte sein Verhalten ab, aber nicht mehr ihn als Mensch. Als sie zusammen eine Gruppenarbeit machen mussten, in der er sich ihr gegenüber normal verhielt, konnte sie mit ihm reden und sie kamen zu einem gemeinsamen Ergebnis der Aufgabe. Sie erkannte, dass das so nicht möglich gewesen wäre, wenn sie im Widerstand gegen ihn geblieben wäre.
„Eine gute Erkenntnis, Aurie.“ Noah stand vor ihr und lächelte sie an. Sie hatte gar nicht bemerkt, dass er aufgetaucht war, so sehr war sie in ihre Gedanken versunken gewesen. Aurie strahlte ihn an. Sie war immer noch überwältigt, wenn er erschien, und konnte sich an seinem gelb-orangenen Gewand und seiner Ausstrahlung nicht satt sehen. Der tiefe Frieden, den er ausstrahlte, breitete sich unmittelbar in ihrem ganzen Körper aus.
„Wieso bist Du hier?“ wollte Aurie wissen. „Ich habe gar nicht so intensiv an Dich gedacht und habe gerade gar keine Frage an Dich im Kopf.“
„Ich weiß. Aber ich möchte mit Dir über ein sehr wichtiges Thema reden.“ antwortete Noah lächelnd und setzte sich vor Aurie ins Gras.
„Was ist passiert?“ fragte Aurie erstaunt. Es musste wirklich sehr wichtig sein, wenn Noah einfach bei ihr auftauchte. Aurie war gespannt.
„Wie würdest Du mir die Energie Deiner Wut, die Du auf Paul hattest, beschreiben, Aurie?“ fragte Noah.
Natürlich hatte Noah auch das wieder mitbekommen. Sie konnte ihm einfach nichts verheimlichen.
„Sehr dunkel, schwer, große Abwehr, der starke Wunsch, dass er nicht da wäre, … Nicht sehr schöne Gedanken.“ murmelte Aurie etwas beschämt.
„Wenn Du ein Bild über diese Wut gemalt hättest, würdest Du Dir das in Deinem Zimmer aufhängen?“ fragte Noah weiter?
„Nie und nimmer!“ rief Aurie entsetzt. „Das wäre ein schreckliches Bild!“
„Und obwohl Du das so schrecklich findest, hast Du genau das in die Welt gesendet, Aurie.“ sagte Noah ruhig. „Und Du hast diese Energie die ganze Zeit in Dir.“
Aurie hob erstaunt ihre Augenbraue. „Das musst Du mir erklären, Noah.“
„Jeder Gedanke ist Energie, Aurie. Es gibt Gedanken, die Freude, Liebe und Harmonie ausstrahlen und die zum Wohle aller Menschen sind. Wenn Du diese Gedanken hast, geht es Dir selbst auch gut. Es gibt aber auch Gedanken, die sehr schwer und dunkel sind, die Neid und auch Hass ausstrahlen. Damit geht es Dir meistens selbst auch nicht gut, vor allem, wenn Du diese Gedanken länger in Dir trägst. Denn diese schwere Energie ist dann auch in Dir. Je nachdem, welche Gedanken Du hast, sendest Du diese Energie in die Welt oder zu dem Menschen, auf den sich Dein Gedanke richtet. Das ist wie ein Ton, den Du machst, und den die anderen hören können. So wird auch die Energie der Gedanken übertragen.“
„Heißt das, dass ich dem armen Paul so eine schreckliche Energie geschickt habe?“ fragte Aurie erschrocken.
„Ja. Das heißt es.“ sagte Noah sanft. „Was meinst Du, löst das in ihm aus, wenn er viel von dieser Energie geschickt bekommt?“
„Ich würde mich an seiner Stelle überhaupt nicht mehr wohl fühlen. Wird man dann selber so schwer und dunkel und empfindet vielleicht Hass für die anderen?“ fragte Aurie mitfühlend.
„Ja. Wenn Du selbst schon in Dir diese Gefühle trägst, dann werden sie durch so eine Energie noch verstärkt.“
„Das heißt, wenn jemand neidisch oder wütend auf andere ist, sich benachteiligt fühlt, nicht weiß, warum er ein toller Mensch ist, und, und, und, dann verstärken die negativen Gedanken anderer das auch noch?“ fragte Aurie nach.
„Genauso ist es. Dadurch ist dann die Energie, die wiederum von diesen Menschen ausgeht, oft umso heftiger. Wenn jemand schon Hass in sich trägt und dann noch Gedanken von Hass und Wut geschickt bekommt, dann wird der Hass, den er anderen zeigt, umso stärker sein. Stell es Dir vor wie bei einem kleinen Feuer. Wenn Du Benzin hineingießt, wird es umso stärker brennen und immer größer werden.“ erklärte Noah.
„Das tut mir schrecklich leid.“ sagte Aurie betroffen. „Ich wollte nicht, dass sich jemand anders wegen mir noch schlechter fühlt. Das war mir nicht bewusst.“
„Deshalb rede ich ja mit Dir darüber.“ Noah lächelte sie an.
„Wenn alle Menschen sehen könnten, wie ihre Gedanken aussehen und was sie auslösen, dann würden sie achtsamer mit ihren Gedanken umgehen. Euer Miteinander auf der Erde würde sich viel freundlicher gestalten." sagte Noah.
"Du hast gesagt, Gedanken sind wie ein Ton, den ich aussende und den die anderen hören können. Können andere also meine Gedanken hören?“ fragte Aurie.
„Es gibt Menschen mit sehr feinen Antennen. Sie können die Energie wahrnehmen, die Deine Gedanken ausstrahlen und reagieren darauf. Und hellsichtige Menschen können Deine Gedankenbilder sehen, ja.“
„Das muss für sie sehr anstrengend sein, wenn sie von keinen schönen Gedanken umgeben sind. Echt gruselig.“ überlegte Aurie und es schüttelte sie bei dem Gedanken.
„Das ist nicht nur für Hellsichtige anstrengend, Aurie, sondern für jeden Menschen. Denk mal daran, Du hast das auch schon mal erlebt. Du hattest in der Klasse Deine Meinung gesagt und Dich für Anna eingesetzt, weil sie von den anderen ungerecht behandelt wurde. Die anderen haben Deine Meinung aber nicht gerne gehört und sie abgelehnt. Niemand hat es Dir direkt gesagt. Aber erinnere Dich, wie unwohl Du Dich gefühlt hast. Das war die Energie, die die Gedanken der anderen, die Deine Meinung abgelehnt haben, ausgestrahlt haben.“
„Oh ja. An dem Tag ging es mir schrecklich.“ Aurie erinnerte sich nur ungern zurück. „Aber was kann ich denn machen? Ich kann doch die anderen nicht davon abhalten, schreckliche Gedanken zu haben.“
„Nein, das kannst Du nicht. Aber Du kannst Dich selbst davon abhalten, schreckliche Gedanken zu haben. Eine wichtige Sache dazu hast Du schon gelernt, Aurie. Deine Licht-Ei-Übung. Erinnerst Du Dich?“ fragte Noah.
„Selbstverständlich! Ich mache die Übung jeden Tag, bevor ich in die Schule gehe. Und wenn ich merke, dass es mir nicht gut geht oder wenn ich mich nicht wohl fühle, dann mache ich sie ganz bewusst. Und dann geht es mir besser, es ist dann weniger anstrengend.“ sagte Aurie.
„Sehr gut, Aurie. Es ist sehr wichtig, dass Du darauf achtest, Dein Energiefeld zu schützen. Durch das Licht-Ei schaffst Du eine energetische Schutzhülle, die Dir hilft, dass Dich negative Gedanken weniger beeinflussen und Dir Kraft rauben.“ erklärte Noah. „Und sie hilft umgekehrt auch den anderen, weil negative Energie, die von Dir ausgeht, bei Dir bleibt.“
„Und jetzt hör gut zu, Aurie. Denn was ich Dir jetzt sage ist sehr wichtig.“
Aurie merkte an Noahs Ausdruck, dass es ihm sehr ernst war.
„Wenn Du willst, dass sich die Welt verändert, dann musst Du Verantwortung für Deine Gedanken übernehmen. Sei Dir bewusst, dass schlechte Gedanken andere Menschen und auch Dich selbst beeinflussen. Und vor allem, dass sie in den Anderen schlechte Eigenschaften verstärken können. So entstehen Kriege, Aurie. Direkt zwischen zwei Menschen, aber auch zwischen den Nationen. Du erschaffst mit Deinen Gedanken die Energie, die Du in die Welt schickst. Und diese Energie nährt andere. Und sie wird zu Dir zurückkehren. Energie geht nie verloren.“ Noah blickte sie ernst und gleichzeitig gütig an. „Daher frag Dich immer: möchte ich die Energie, die ich aussende, auch selbst erhalten? Wenn nicht, dann entscheide Dich für eine andere Energie, die Du in die Welt ausstrahlst.“
Aurie dachte darüber nach, was Noah ihr sagte. „Ich möchte viel lieber zu Frieden beitragen, Noah. Was kann ich tun, damit ich gute Energie in die Welt schicke, die anderen hilft?“
„Beobachte Deine Gedanken. Überlege Dir, ob Du sie tatsächlich laut aussprechen würdest. Wenn andere Deine Gedanken hören, würdest Du sie dann genau so denken? Wenn sich ein negativer Gedanke in Deinen Kopf schleicht, schicke unmittelbar einen positiven Gedanken hinterher. Schaffe ganz bewusst einen Gedanken, der zum Wohle aller Menschen ist. Trainiere Deine Gedanken. Sei achtsam mit ihnen. Sie haben enorme Kraft. Sei Dir bewusst, dass die Energie eines jeden Gedanken, den Du ausstrahlst, auch zu Dir zurückkehren wird. Entscheide, welche Energie Du in Dir tragen möchtest.“ wies Noah sie an.
Aurie schwieg. Sie versuchte sich gerade das Bild eines lachenden Pauls vorzustellen, nachdem sie ihm so viele abwehrende Gedanken geschickt hatte. Das war gar nicht so einfach.
„Noah, wie mache ich das, wenn sich aber jemand so wie Paul verhält? Dann ist es gar nicht einfach, keine negativen Gedanken zu haben. Ich finde es nicht richtig, was er macht!“
„Es ist auch absolut richtig dem anderen die Grenzen aufzuzeigen, wenn er sich so verhält. Sei Dir aber im Klaren, dass Du sein Verhalten ablehnst, nicht den Menschen an sich. In seinem Kern ist er so wie Du – ein Funke Gottes. Ihm ist das nur nicht bewusst. Das ist das, was Du tust.
Und dann sei Dir bewusst – die Energie, die Du ihm mit Deinen Gedanken schickst, nährt ihn. Entscheide, was Du unterstützen willst. Willst Du, dass er sich noch stärker negativ verhält? Oder willst Du den Funken Gottes in ihm, das Licht stärken? Welche Gedanken schickst Du ihm?“ fragte Noah sie.
Das leuchtete Aurie ein. „Ich will lieber, dass Paul erkennt, dass er auch ein toller Kerl sein kann. Als ich mit ihm in der Gruppe gearbeitet hab, hat er ja mitgeholfen, dass wir zu einem Ergebnis kamen.“
„Dann unterstütze ihn darin, Aurie. Schicke ihm Gedanken, die genau dieses Bild transportieren und das verstärken. Dann hat er eine Chance, dass er sich in diese Richtung verändern kann. Und stell Dir mal vor Aurie, es würden ihm nicht nur Du, sondern alle in Eurer Klasse zur gleichen Zeit diese Gedanken, mit dem tollen Paul im Fokus, schicken. Was meinst Du, würde das in ihm auslösen?“ fragte sie Noah.
„Ich glaube, dann könnte er irgendwann keinem mehr Leid zufügen, wenn er merkt, dass keiner gegen ihn ist. Und vor allem, wenn er spürt, dass wir sehen, was er eigentlich kann. Dann muss er es doch irgendwann glauben.“ überlegte Aurie.
„Ganz genau.“ Noah nickte zufrieden. „Und jetzt stell Dir mal vor, wenn das schon im kleinen Kreis, nur in Eurer Klasse funktionieren kann, was würde passieren, wenn die Menschen sich auch über Landesgrenzen hinweg mit positiven Gedanken unterstützen würden?“
„Es wäre kein Krieg mehr möglich.“ sagte Aurie. „Und die Menschen würden viel liebevoller miteinander umgehen. Wow! Eigentlich sehr einfach!“
„Ja, eigentlich sehr einfach.“ pflichtete ihr Noah bei. „Erzähl den anderen Kindern davon, Aurie. Es ist so einfach. Gedanken sind sehr machtvoll. Ihr Kinder seid sehr machtvoll, wenn ihr Euer Denken mit dieser Absicht und mit dem Wunsch, zum Wohle aller zu handeln, bewusst einsetzt. Dann wird sich die Welt verändern. Ihr habt die Kraft und die Möglichkeit, das zu schaffen.“
Aurie bekam Gänsehaut bei diesem Gedanken. Und gleichzeitig spürte sie große Freude. Sie wollte das jetzt ganz praktisch erstmal für sich mit Paul üben. Und sie wollte es mit Julia, ihrer Freundin, und vielleicht auch mit Sandra besprechen. Es interessierte sie, was passieren würde, wenn nicht nur sie alleine Paul ganz bewusst andere Gedanken schickte.
Noah grinste sie an. „Ich wusste, Du verstehst, was ich Dir heute beibringen wollte. Übe es gut, liebe Aurie. Und sei Dir Deiner Verantwortung bewusst. Schicke jedem negativen Gedanken einen guten Gedanken hinterher. Verändere die Energie Deiner Gedanken, dann wird sich Deine und auch die Energie in der Welt verändern.“ Noah erhob sich und ging wieder an ihr vorbei um den Apfelbaum. Und wieder war ihr, als hätte er ihr über den Kopf gestrichen, obwohl er sie gar nicht berührt hatte.
Aurie blieb noch unter ihrem Apfelbaum sitzen und übte, ganz bewusst an einen lachenden Paul zu denken und daran, wie er sich so toll wie in der Gruppe letztens verhält. Dann, wenn sie wieder Groll gegen ihn spürte, versuchte sie ganz bewusst an eine Schmetterlingswiese mit vielen bunten Blumen zu denken. Das gelang ihr sehr schnell. Sie wollte keinen Groll mehr in ihrem Herzen gegen Paul verstärken.
Als sie ihre Großmutter rufen hörte, sprang sie auf und lief ins Haus.
© Sara Hiebl