Aurie und die Stille
Aurie hatte das Bild ihrer Vision, das sie gemalt hatte, über ihr Bett gehängt. Sie saß jeden Abend davor und sah es lange an. Das Foto der dreijährigen strahlenden Aurie hatte sie in die Mitte geklebt. Wenn sie sich ansah, war sie tief berührt. Sie hatte das Gefühl, selbst wieder mehr in Kontakt mit der tiefen Liebe in sich zu kommen. Auch ihre Eltern und ihre Großmutter saßen oft davor und blickten das Bild lange an. Dann strichen sie ihr über den Kopf und murmelten „Unsere Aurie… Was wären wir nur ohne Dich?“ Und Aurie spürte, dass auch sie tief berührt waren.
Eines Nachmittags, als sie auf dem Bett lag und ihr Bild ansah, hörte sie Noahs Stimme:
„Komm, zeig mir Dein Bild!“
Aurie strahlte voller Freude. Sie hatte Noah schon mehrere Wochen nicht mehr gesehen. Sie nahm ihr Bild von der Wand und rannte in den Garten zu ihrem Apfelbaum. Dort ließ sie sich ins Gras fallen und in diesem Moment tauchte Noah neben ihr auf.
Ganz gebannt sah Aurie Noah an und genoss sein wunderbares Strahlen. Eine tiefe Ruhe dehnte sich in Aurie aus und sie war einfach nur glücklich. Sie hielt ihr Bild hoch und zeigte es Noah.
Noah lächelte sie an. „Ja, Aurie, jetzt kann ich das Strahlen in Dir wieder mehr sehen. Ich merke, Du erinnerst Dich.“ Er nickte zufrieden.
Aurie blickte Noah an. „Weißt Du Noah, seitdem Du mir geholfen hast, mich wieder an meine Vision zu erinnern, habe ich das Gefühl, dass ich wieder mehr Kraft habe. Ich kucke mein Bild jeden Abend lange an. Jetzt spüre ich auch die Liebe, die alle Herzen berührt, wieder viel besser in mir.“ Aurie lächelte glücklich darüber. Dann fügte sie nachdenklich hinzu: „Aber weißt Du, ich weiß wirklich nicht, wie meine Vision funktionieren soll. Wie soll ich es denn schaffen, alle Menschen in ihrem Herzen zu berühren, damit sie sich an die Liebe erinnern?“
„Wen konntest Du denn schon mit Deinem Strahlen im Herzen berühren?“ fragte sie Noah.
Aurie hob den Kopf. „Meine Großmutter und meine Eltern. Sie sitzen vor dem Bild meiner Vision und ich merke, sie sind tief berührt. Ich glaube, irgendwo ganz tief drinnen erinnern sie sich ein bisschen.“
„Ja, das tun sie, Aurie.“ bestätigte Noah. „Und erinnere Dich, Aurie, auch Paul hast Du schon in seinem Herzen berührt. Er verhält sich Dir gegenüber ganz anders.
Und Deine Kraft wird weiter wachsen, Aurie. Allerdings gibt es ein paar Dinge, die Du noch lernen musst, damit Du Deine Vision, weshalb Du hier auf der Erde bist, ganz leben kannst.“
Aurie blickte Noah mit großen Augen an. Sie war gespannt, was er ihr als nächstes beibringen würde.
„Warum bist Du gerne bei Deinem Apfelbaum, Aurie?“ fragte sie Noah.
„Weil Du hier bist!“ Aurie grinste.
Noah musste lachen. „Ok. Aber Du bist doch auch schon gerne hier gewesen, bevor Du mich getroffen hast. Warum?“
Aurie überlegte kurz. „Ich komme immer zu meinem Apfelbaum, weil ich hier meine Ruhe habe. Hier kann ich nachdenken. Hier kann ich weinen, wenn mir alles zu viel ist. Ich habe das Gefühl, dass ich mich dann selbst wieder besser spüre, wenn ich eine Weile unter meinem Apfelbaum gesessen bin. Danach fühle ich mich immer besser und die Welt fühlt sich ein kleines Stück weniger schwer an.“
„Und was tust Du genau, wenn Du hier bist?“ fragte sie Noah.
„Was ich tue?“ fragte Aurie erstaunt.
„Ja.“
Aurie fand Noahs Frage ziemlich seltsam. Denn eigentlich tat sie ja nichts.
Noah lachte. „Genau, Aurie. Du tust nichts. Und das ist wichtig, dass es immer wieder Zeiten gibt, in denen Du bewusst nichts tust. Denn was passiert denn, wenn Du hier sitzt und nichts tust?“
„Ich beobachte, was um mich herum im Garten passiert. Ich höre dem Wind zu, ich beobachte das Sonnenlicht in den Blättern, ich rieche den Duft der Blumen oder Omas Apfelkuchen im Ofen. Ich spüre das Gras unter meinen Fingern. Und ich atme tief und fest. Wie gesagt, ich habe das Gefühl, ich kann wieder Luft holen, wenn mir alles zu viel geworden ist.“
„Sehr gut, Aurie. Das ist der Schlüssel. Wenn Du ganz bewusst, mit all Deinen Sinnen, wahrnimmst, was um Dich herum passiert, dann macht das Denken eine Pause. Dein Verstand und Dein Ego können nicht arbeiten, wenn Du ganz im Hier und Jetzt bist. Dann entsteht wirkliche Stille in Dir.“[1]
„Ist das der Grund, warum es mir dann besser geht?“ fragte Aurie.
„Wenn Dein Verstand ruhig ist, dann nimmst Du einfach wahr, was in diesem Moment ist. Keine Geschichte, keine Version, die Dir Dein Verstand stattdessen erzählt. Dann sind auch nur die Gefühle da, die in diesem Moment entstehen. Und Gefühle dauern nicht über den Moment hinaus an, wenn Dein Verstand sie nicht am Leben hält.“ erklärte Noah.
„Das verstehe ich nicht ganz.“ sagte Aurie.
„Denk an Paul.“ Wies Noah sie an. „Wie oft warst Du wütend auf ihn und hast ihn innerlich abgelehnt, schon am frühen Morgen, obwohl eigentlich noch gar nichts passiert ist.“
Aurie blickte beschämt zu Boden.
„Diese Gefühle waren nur da, weil Dein Verstand sie weiter gefüttert hat. Die Situation, in der sie entstanden sind, war schon längst vorbei. Wenn Dein Verstand aber ruhig ist, dann ist jede Situation eine neue Möglichkeit. Du siehst es jetzt: Wenn Du Paul gegenüber offen bist, hat er immer wieder eine neue Chance. Er verhält sich Dir gegenüber ganz anders, als den anderen gegenüber. Und wenn er sich so verhält, dass Dich etwas stört, dann sagst Du es ihm ehrlich.“
Aurie verstand jetzt, was Noah meinte.
„Was passiert noch mit Dir, Aurie, wenn Du in der Stille unter Deinem Apfelbaum bist?“ fragte sie Noah.
„Ich kann mich und meinen Körper besser spüren.“ sagte Aurie. „Und wenn ich hier war habe ich immer das Gefühl, als hätte ich wieder mehr Energie.“
„Weißt Du, warum das so ist?“ fragte sie Noah.
Aurie schüttelte den Kopf.
„Es gibt Orte, an denen Du Ruhe finden kannst. An denen eine andere Energie herrscht und Du wieder in Kontakt mit Dir selbst, mit dem Frieden und der Liebe in Dir kommen kannst. In der Natur gelingt uns das leichter, weil die Natur in Einheit schwingt und Liebe ausstrahlt. So ein Platz in der Natur, wie unter Deinem Apfelbaum, ist dafür sehr gut geeignet. Und dass ein Platz Dir gut tut, merkst Du immer daran, ob Du dort zur Ruhe kommen kannst und Dich dort wohl fühlst, wieder Energie bekommst. Jeder kann sich solche Plätze suchen. Und es ist ganz wichtig, diese Orte regelmäßig aufzusuchen, dort Kraft zu tanken und Dich wirklich zu erholen.“
„Ich habe auch das Gefühl, dass ich klarer denken kann, wenn ich hier in der Stille bin.“ sagte Aurie nach kurzem Schweigen. „Hat das auch damit zu tun?“ fragte sie.
„Ja.“ bestätigte sie Noah. „Sobald Dein Verstand und Dein Ego zur Ruhe kommen, Du Dich und Deinen Körper spürst, Du ganz im Hier und Jetzt bist, kannst Du in Kontakt mit der tiefen inneren Weisheit kommen. Dort ist es möglich, alle Antworten zu finden. Dort entsteht die Kreativität. Du spürst, was jetzt in diesem Moment zu tun ist und folgst diesem Impuls, Deiner Intuition. Dieses Wissen kann der Verstand nicht erfassen. Er ist zu beschäftigt mit immer den gleichen Dingen.“
Aurie dachte darüber nach.
„Weißt Du Noah, wenn ich hier unter meinem Apfelbaum bin, dann ist das alles leicht für mich. Aber wenn ich zum Beispiel in der Schule bin und es mir nicht gut geht, dann kann ich ja nicht einfach davonlaufen und hier herkommen. Was kann ich machen, um trotzdem in Kontakt mit meiner inneren Stille und Kraft zu kommen?“ fragte Aurie.
„Ich zeige Dir gerne eine Übung, Aurie.
Dein Atem ist Dir dabei eine gute Hilfe, denn er begleitet Dich überall hin. Stell Dir vor, Du atmest von einem Punkt in Deinem Körper zum anderen. Und zwar mit jedem Einatmen bis zu Deinem Scheitel am Kopf und mit jedem Ausatmen bis zu Deinen Fußsohlen. Das bringt Dich schnell in eine tiefe Entspannung und hilft Dir, den Stress zu senken, den Du verspürst.[2]
Probiere es am besten gleich mal aus.“
Aurie richtete sich etwas auf und begann ganz bewusst, ihrer Atmung zu folgen. Mit jeder Einatmung bis zu ihrem Scheitel am Kopf, mit jedem Ausatmen bis zu ihren Füßen. Es dauerte kurz, bis sie für sich einen Rhythmus fand und es ihr gelang, sich ganz auf ihren Atem zu konzentrieren. Dann spürte sie, wie sich in ihr deutlich mehr Ruhe ausdehnte. Wow! Sie konnte sich gut vorstellen, dass ihr das in der Schule helfen würde, wenn sie sich unwohl fühlte.
„Und jetzt lenke Deine Aufmerksamkeit auf das innere Energiefeld Deines Körpers. Fühlen sich Deine Hände, Arme, Beine und Füße, Dein Bauch, lebendig an? Kannst Du das feine Energiefeld in Deinem Körper fühlen, dass jedes Organ und jede Zelle mit Leben füllt? Richte Deine ganze Aufmerksamkeit auf das Gefühl Deines inneren Körpers, ohne darüber nachzudenken. Spüre einfach in Dich hinein. Es kann nur ein leichtes Kribbeln oder leichte Wärme sein, die Du wahrnimmst. Je öfter Du Dein inneres Energiefeld beobachtest, desto mehr bleibst Du im Kontakt mit ihm. Über Dein inneres Energiefeld kommst Du in Kontakt mit Deiner inneren Weisheit, mit der Stille, die in allem schwingt. Du kannst den Puls des Lebens spüren, so wie Du den Herzschlag Deiner Mutter hörst, wenn Du auf ihrer Brust liegst. “[3]
Aurie spürte tatsächlich ein ganz feines Kribbeln in ihrer rechten Hand, als sie ihre Aufmerksamkeit auf ihr inneres Energiefeld richtete. Sie musste darüber lächeln. Sie spürte sich viel kraftvoller, allein nach diesem kurzen Moment.
„Wow, Noah. Ich fühle mich viel kraftvoller und ruhiger, als hätte ich Stunden hier unter meinem Apfelbaum gesessen.“
Noah grinste sie an.
„Die Natur wird Dir immer eine Hilfe sein, in Kontakt mit der Stille zu kommen. Je öfter Du Dich mit der Stille verbindest, desto leichter wird es Dir fallen in der Stille zu bleiben, auch wenn es um Dich herum sehr laut und turbulent ist. Desto leichter wird es Dir fallen, Dich selbst wahrzunehmen und auf Dich zu achten. Und umso mehr wirst Du verbunden bleiben mit der tiefen inneren Weisheit.
Das ist eine Grundvoraussetzung, wenn Du Deine Vision leben möchtest, liebe Aurie.“
Für einen Moment war Aurie, als hätte Noah seine Flügel geöffnet und alles um sie herum war in goldenes Licht getaucht. Sie fühlte sich tief berührt und ihr war, als könnte sie dieses Licht in jeder Zelle ihres Körpers spüren.
„Übe den Kontakt mit der Stille, Aurie, auch, wenn Du nicht unter Deinem Apfelbaum sitzt. Gehe ganz in Verbindung mit Deinem inneren Energiekörper.“
Noah blickte Aurie gutmütig an und verschwand hinter dem Apfelbaum.
Tief berührt saß Aurie noch eine Weile da und spürte dem sanften Kribbeln in ihren Händen nach, bevor sie zurück nach drinnen ging.
[1]
Tolle, E. (2008). Jetzt! Die Kraft der Gegenwart. 19. Auflage. Bielefeld: J. Kamphausen Verlag & Distribution GmbH.
[2] Hawaiianische Atemtechnik, Piko-Piko Atmung. Piko bedeutet auf Hawaiianisch „Spitze“ oder „Punkt“.
[3] Tolle, E. (2008). Jetzt! Die Kraft der Gegenwart. 19. Auflage. Bielefeld: J. Kamphausen Verlag & Distribution GmbH.
© Sara Hiebl