Aurie und die Angst

 


Aurie lehnte an ihrem Apfelbaum in der Sonne und dachte darüber nach, was Noah ihr beim letzten Treffen gesagt hatte: Die Verbindung mit der Kraft der Liebe ist die Voraussetzung für Vertrauen.

Sie hatte in letzter Zeit versucht bewusst zu spüren, ob die Leute mit der Liebe in sich verbunden sind. Sie konnte einen deutlichen Unterschied wahrnehmen: Menschen, die mit der Liebe verbunden sind, strahlen mehr Ruhe aus, mehr Freundlichkeit, gehen offener auf andere zu, sind irgendwie gütiger – mit sich selbst, und mit anderen. Sie tragen mehr Leichtigkeit und Freude in sich. Leute, die innerlich von der Liebe getrennt sind, empfand Aurie als sehr schwer, dunkel, unglücklich, unruhig, weniger offen und freundlich und sie konnte weniger Freude in ihnen spüren. Sie sind auch härter mit sich selbst und mit anderen

 

Sie dachte daran, dass ihre Großmutter sie letztens lange in der Küche angesehen hatte und sie konnte die Liebe spüren, mit der sie sie betrachtete. „Was ist?“ hatte sie irgendwann lächelnd gefragt und ihren Kuchenteig weiter geknetet. „Es ist erstaunlich, Aurie, wie viel Liebe Du in Dir trägst.“ hatte ihre Großmutter sanft geantwortet. Aurie hatte sie erstaunt angesehen und kurz aufgehört, ihren Kuchenteig zu kneten. „Wieso erstaunt Dich das so?“ hatte sie gefragt. „Weil das nicht selbstverständlich ist.“ hatte ihre Großmutter gesagt und etwas traurig aus dem Fenster gesehen. Aurie konnte spüren, wie Schatten über das Herz ihrer Großmutter zogen. Sie hatte die Hände aus ihrem Kuchenteig genommen, war zu ihrer Großmutter gegangen und hatte die Arme um sie geschlungen. Ihre Großmutter hatte ihr über die Wange gestrichen, sie geküsst und dankbar gelächelt. Dann war sie aufgestanden und hatte energisch den Teig fertig geknetet.

 

Aurie runzelte die Stirn, als ihr wieder einfiel, wie deutlich sie den Schatten spüren konnte, der über das Herz ihrer Großmutter huschte. Es war, wie wenn jemand die Liebe ihrer Großmutter in diesem Moment verhüllt hätte und sie weniger strahlen konnte. Sie hatte gespürt, wie es ihrer Großmutter schwer ums Herz wurde, an was auch immer sie in diesem Moment dachte. Aurie hatte sich nicht getraut zu fragen. Aber sie spürte, dass ihre Großmutter wohl Angst hatte. Aurie wünschte sich nur, dass sie diesen Schatten auf dem Herzen ihrer Großmutter wegzaubern könnte.

 

„Das kann nur Deine Großmutter selbst.“ hörte sie Noah sagen und sah ihn neben sich auftauchen. Er setzte sich, wie so oft, ihr gegenüber ins Gras.

Aurie lächelte glücklich, während sie sein Strahlen betrachtete. Wenn Noah auftauchte breitete sich immer diese tiefe Ruhe in ihr aus. Und sie war neugierig. Denn immer, wenn er auftauchte, lernte sie auch etwas Neues über sich.

 

„Wie meinst Du das?“ fragte Aurie ihn nach einer Weile.

„Mit Deinem Gefühl, dass Deine Großmutter Angst hatte, lagst Du genau richtig, Aurie.“ bestätigte sie Noah. „Und jetzt erinnere Dich nochmal an die Situation in der Küche: Gab es in diesem Moment etwas, wovor Deine Großmutter Angst haben musste?“ fragte er.

Aurie schüttelte den Kopf. „Nein! Wir haben schließlich einfach nur Kuchen gebacken. Wovor hätte sie denn da Angst haben sollen?“ fragte Aurie verwundert.

„Genau. Das heißt, es gab nichts im Außen, was in diesem Moment Angst bei Deiner Großmutter ausgelöst hat. Woher kam also dann die Angst, die Du wahrgenommen hast, Aurie?“

„Aus ihren Gedanken?“ vermutete Aurie.

„Richtig. Die Gedanken Deiner Großmutter haben Angst in ihr ausgelöst. Diese Art der Gedanken schafft die gleichen Emotionen, manchmal noch schlimmere, wie wenn es tatsächlich passiert wäre. Aber in diesem Moment ist nichts passiert. Allein ihre Gedanken haben jedoch Leid in ihr erzeugt.“ erklärte ihr Noah.

Aurie tat ihre Großmutter leid. Warum quälte sie sich selbst? Warum machte sie sich das Leben selbst so schwer? Sie seufzte.

 

„Lass uns schauen, was die Angst mit Dir macht, Aurie: Immer, wenn Du Angst hast, kannst Du nicht realistisch denken. Du bist nicht bewusst bei dem, was jetzt gerade ist. Dein Verstand, Dein Ego, kreiert eine andere Welt. Er malt Dir eine Zukunft aus, die meist schlimmer ist, als das, was tatsächlich ist. Dein Denken wird von Angst gesteuert und ist nicht mehr frei. Die größte Herausforderung kommt nie von außen, sie ist immer in Dir selbst. Erinnere Dich, was ich Dir über Dein Ego beigebracht habe. An der Schwere in Deinem Herzen kannst Du erkennen, dass Du im Widerstand gegen das bist, was gerade ist. Auch Angst ist eine Form davon.

Wenn die Angst in Dir auftaucht, frage Dich: Wie entsteht sie? Warum habe ich Angst? Und in den meisten Fällen wird sich herausstellen, dass die Angst durch Deine Gedanken entstanden ist. Nicht durch die Situation an sich. Wenn Du Angst hast, bist Du aber unfähig zu handeln, Du bist absolut getrennt von der Weisheit und auch von Deiner inneren Führung. Und dann machen die Menschen unverständliche Dinge.“[1] erklärte Noah weiter.

 

Aurie kannte das. Sie hatte einmal versehentlich die Porzellan-Katze der Nachbarin auf der Treppe kaputt gemacht, weil sie dagegen gestoßen war. Sie hatte große Angst vor ihrer Reaktion gehabt und war davongelaufen. Hinter der Hecke hatte sie sie schimpfen gehört. Zwei Wochen hatte sie sich nicht mehr in die Nähe der Nachbarin getraut, aus Angst davor, ausgeschimpft zu werden oder schlimmer. Sie hatte abends im Bett gelegen und sich selbst vor der schreienden Nachbarin gesehen. Je länger sie darüber nachdachte, desto schlimmer wurde das Szenario in ihrem Kopf. Irgendwann hatte sie es nicht mehr ausgehalten und ihrer Großmutter von ihrem Missgeschick erzählt. Ihre Großmutter hatte sie bei der Hand genommen, mit ihr einen Blumenstrauß gepflückt und war dann mit ihr zur Nachbarin gegangen. Aurie war an den Füßen ihrer Großmutter geklebt und hatte der Nachbarin nicht in die Augen sehen können, als sie ihr den Blumenstrauß entgegengestreckt hatte. Und ihre Großmutter hatte sie sehr unterstützen müssen, damit sie der Nachbarin erzählen konnte, was passiert war. Die Nachbarin hatte sich einfach nur auf die Stufen gesetzt, sie angesehen und gefragt, warum sie es ihr nicht gleich erzählt hatte. Zwei Wochen lang hatte Aurie sich völlig umsonst gesorgt.

 

Noah grinste sie an. Natürlich hatte er wieder mitbekommen, woran Aurie gerade gedacht hatte.

„Genau, Aurie. Deine Angst war völlig umsonst. Wenn Du Verantwortung für das, was Du tust, übernimmst, hat die Angst wenig Chancen.“

„Wie meinst Du das?“ hakte Aurie nach.

„Nehmen wir Dein Beispiel mit der Nachbarin. Wenn Du gleich zu ihr gegangen wärst, dann hätte sie vielleicht ein bisschen geschimpft oder Du hättest ihr beim Aufräumen helfen müssen. Wie wäre es Dir dann in den zwei Wochen danach gegangen?“

Aurie überlegte kurz. „Ich wäre wahrscheinlich ziemlich erleichtert gewesen und hätte mich entschuldigt. Ich habe es ja nicht mit Absicht gemacht. Vor allem hätte ich aber in diesen zwei Wochen viel besser geschlafen und wäre meiner Nachbarin nicht aus dem Weg gegangen. Es gab ja keinen Grund dafür.“

„Siehst Du. Deine Gedanken hätten Dir dann keine Geschichte erzählen können, die Angst auslöst.

Wenn Du Dich fragst, warum Du gerade ängstlich bist, dann kannst Du auch leichter herausfinden, was in der Situation zu tun ist oder welche Unterstützung Du brauchst. Denn Du bist nicht in der Angst verloren, sondern schaust Dir die Situation bewusst an.

Erinnere Dich: eine Emotion ist die körperliche Reaktion auf Deine Gedanken.[2] Wenn Du Deine Gedanken gezielt hinterfragst, kann die künstliche Angst nicht weiter bestehen.“ erklärte Noah.

 

„Woran erkenne ich denn, dass ich etwas aus Angst tue?“ wollte Aurie wissen.

„Eine sehr gute Frage!“ Noah grinste. „Wenn Du etwas aus Angst tust, bist Du meist gehetzt, nervös, angespannt, unruhig, fühlst Dich nicht wohl, fürchtest Dich, Dein Atem geht schneller, Du sorgst Dich, Deine Gedanken drehen sich im Kreis, es fällt Dir schwer, einen klaren Gedanken zu fassen.

Vor allem merkst Du es daran, dass Du nicht akzeptieren kannst, was gerade ist, und Dich dagegen wehrst. Angst möchte keine Veränderung, sie geht vom Ego aus. Angst ist die Abwesenheit von Vertrauen. Angst und Vertrauen können nicht nebeneinander bestehen.“

„Ist es aber nicht manchmal auch gut, Angst zu haben?“ fragte Aurie. „Wenn etwas gefährlich ist zum Beispiel?“

„Diese Art von Angst ist eine natürliche Reaktion, sie hilft Dir, zu überleben. Der Hund knurrt Dich an, Du läufst weg. Sobald der Hund aber weg ist, gibt es keinen Grund mehr für diese Angst. Erst Deine Gedanken „Was ist, wenn ich den Hund wieder treffe?“, halten die Angst aufrecht und Du lebst weiter in ihr, obwohl der Hund gar nicht da ist. Diese künstliche Angst ist unnütz und zerstört Deine Lebensenergie.“

Das leuchtete Aurie ein. Sie hatte es ja selbst erlebt, wie ihr die Angst alle Energie genommen hatte.

 

„Wenn Du merkst, dass Angst in Dir auftaucht, dann frage Dich: woher kommt die Angst? Wovor genau habe ich Angst? Konzentriere Dich auf Deinen Atem, verbinde ihn, vom Scheitel bis in die Fußsohlen, so wie ich es Dir schon gezeigt habe. Konzentriere Dich auf Dein inneres Energiefeld und zeichne Dein Licht-Ei um Dich. So entsteht Raum für Dich und Du kannst Dich vor der Angst schützen. Wenn du wieder etwas zur Ruhe gekommen bist, frage Dich: Was kann ich jetzt tun? Was brauche ich? Du wirst klarer denken können und eine Antwort finden.“ wies Noah sie an.

„Sei dir bewusst, Aurie. Du bist selbst verantwortlich für Deine Gedanken. Du bist verantwortlich für Deinen Bewusstseinszustand. Mach das zu Deiner wichtigsten Aufgabe.“[3]

 

„Ich frage mich aber immer noch: Woran erkenne ich, dass ich weiß, was zu tun ist, und ich nicht in der Angst bin?“

„Du kannst die Situation beobachten und musst nicht sofort handeln. Du kannst abwarten und abwägen. Du hast mehr Ruhe in Dir, Dein Atem ist ruhiger, Du kannst klare Gedanken fassen. Du wehrst Dich nicht gegen das, was gerade ist, sondern konzentrierst Dich auf das, was als nächstes zu tun ist. Du kannst klare Entscheidungen treffen. Du hast Vertrauen in Deine eigenen Stärken und weißt, dass Du eine Lösung finden wirst. Und Du vertraust auf die innere Führung.“ Noah zwinkerte ihr zu. „Wenn Du im Vertrauen bist, ist innere Führung möglich. Dazu erzähle ich Dir wann anders noch mehr.“ erklärte ihr Noah.

 

„Merke Dir, Aurie, Angst ist eine sehr starke Kraft. Nicht immer kommt die Angst aus Dir selbst heraus. Oft saugst Du sie unbewusst von Deinem Umfeld auf und übernimmst deren Gedanken. Vor allem, wenn die Angst sehr weit verbreitet ist, ist es schwierig, sich davon abzugrenzen, weil sie sehr machtvoll ist. Angst hält Dich davon ab, etwas zu verändern. Die Angst ist Teil des Egos und sie kann nicht überleben, wenn Du Dir Deines Denkens und Deines Tuns bewusst bist. Sie wird also immer wieder versuchen, Dich davon abzuhalten.

Deshalb: lenke Deine Aufmerksamkeit ganz auf das, was jetzt in diesem Moment ist. Sei ganz da, wo Du jetzt bist und bei dem, was Du tust. Mache Deinen Geistes-Zustand zu Deiner wichtigsten Aufgabe. Du bist der Angst nicht ausgeliefert. Schau Dir die Situation bewusst an. Was kannst Du in diesem Moment tun? Was brauchst Du? Und Du wirst die Möglichkeiten sehen.“ Noah schwieg.

 

„Danke, Noah. Jetzt weiß ich, was ich tun kann, wenn ich Angst habe.“ bedankte sich Aurie. „Mir hat das noch nie jemand erklärt. Ich dachte, es ist völlig normal, Angst zu haben. Denn ich kann die Angst bei vielen Menschen wahrnehmen.“

„Angst als natürliche Reaktion, wenn sie Dein Leben rettet, ist normal. Angst zu haben, die aus Deinen eigenen Gedanken heraus genährt wird, ist Irrsinn. Die Angst, die Du bei vielen Menschen wahrnimmst, kann nur weiter bestehen, weil sie sich nicht damit beschäftigen, woher sie kommt. Und wenn sie von der Liebe getrennt sind, nehmen sie sich selbst nicht mehr gut genug wahr und spüren nicht, was sie brauchen. Dadurch hat die Angst, das Ego, viel Raum.“ Noah erhob sich.

„Deshalb übe gut, Aurie, herauszufinden, woher die Angst kommt. Je mehr Angst Du im außen wahrnimmst, umso wichtiger ist es, wachsam mit Deinem Bewusstseins-Zustand, mit Deinen Gedanken zu sein und Dich mit der Liebe in Dir zu verbinden. Bitte Deinen Schutzengel, Dich zu stärken und seine Flügel schützend um Dich zu legen, wann auch immer Du nur einen Hauch Angst in Dir verspürst. Dann wird es leichter sein für Dich.“ Noah lächelte ihr zu und verschwand.

In diesem Moment spürte Aurie sich tief geborgen, eine unendliche Liebe durchströmte sie und sie wusste, dass Noah seine Flügel um sie gelegt hatte. Glücklich lehnte Aurie an ihrem Apfelbaum. Dieses Gefühl würde sie nicht wieder vergessen. „Wenn ich beim nächsten Mal Angst habe, werde ich mir das zu Hilfe holen und Noah bitten, mich zu beschützen.“


[1] Tolle, E. (2022). Being the light. Challenges as a pathway to conscious Evolution. Eckhart Teachings. Sounds true - Waking up the world.

[2] Tolle, E. (2001). Practising the power of now. A guide to spiritual enlightenment. London: Yellow Kite Books.

[3] Tolle, E. (2022). Being the light. Challenges as a pathway to conscious Evolution. Eckhart Teachings. Sounds true - Waking up the world.



© Sara Hiebl

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